"Und bist du nicht willig " - Gewalt und Alter (Nübel, Gerhard und Bernd Meißnest (Hrsg.))Mabuse-Verlag 2011, 89 Seiten, 17,90 Euro, ISBN: 978-3-940529-81-7Rezension von: Irmgard Hofmannm, MA |
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Das LWL-Klinikum Gütersloh ist eine Einrichtung des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL). Es gehört zum PsychiatrieVerbund, in dem rund 8.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jährlich über 140.000 Menschen in mehr als 100 Einrichtungen behandeln, pflegen und betreuen. Das Thema "Gewalt und Alter" wurde deswegen gewählt, weil die demografische Entwicklung einerseits auf eine ständig älter werdende Gesellschaft verweist und andererseits unzumutbare und gewaltfördernde Strukturen in der Altenhilfe eher zunehmen. Die Beiträge beschreiben nach Aussagen im Vorwort den Ist-Zustand aus verschiedenen Perspektiven.
Die Kriminalkommissarin Heike Lütgert zeigt an Hand von Statistiken mehrere Tendenzen auf: So sinken generell die Kriminalitätsraten, der negative Trend bei Gewalt ist gestoppt und Menschen über 60 sind im öffentlichen Raum deutlich weniger gefährdet als Jüngere. Schwieriger ist die Situation im sog. sozialen Nahraum, wenn es also um Beziehungsgewalt, um das familiäre Umfeld geht. Aktuelle Studien belegen, dass häusliche Gewalt nicht neu ist, sondern die Bereitschaft, sich gegen die "private" Gewalt zu wehren, gewachsen ist. Grundsätzlich ist in diesem Raum die Dunkelziffer weiterhin sehr hoch. Es gibt keine verlässlichen Daten, wie hoch der Gewaltanteil in der familiären Pflege zwischen Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen ist. Anders als in stationären Einrichtungen sind hier entsprechende Erhebungs- und Kontrollmöglichkeiten praktisch nicht vorhanden.
Der zweite Beitrag von Birgit Panke-Kochinke beschäftigt sich mit der Gewalt, die gegen Pflegende ausgeübt - und häufig tabuisiert - wird. Zumindest in der Altenpflege dürfte es keine Mitarbeitenden geben, die nicht schon selbst Opfer von Gewalt wurden; ausgeübt von den pflegebedürftigen Menschen, aber auch von Angehörigen, Ärzten, Kollegen und Vorgesetzten. Die Autorin zeigt Konfliktmuster und mögliche Lösungsansätze auf. Generell verstehen Pflegende unter Gewalt häufig nur jene Handlungen, die sich direkt gegen die Persönlichkeit der Pflegenden richtet, also z. B. sexuelle Übergriffe durch Bewohner, die geistig völlig klar sind. Dagegen werden kneifen, schlagen, treten, an den Haaren ziehen durch Menschen mit z. B. demenzieller Veränderung unter Berufsrisiko "verbucht" und nicht als Gewalt bezeichnet. Das erschwert eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema, als dessen Kern die Angst in der pflegerischen Handlungsbeziehung zu sehen ist. Dieser Artikel zählt zu den stärksten in dem Buch.
Cordula Gestrich verweist in ihrem Beitrag "Jung in den Krieg - alt mit Trauma" auf den oft unterschätzten biografischen Hintergrund alter Menschen, die in jungen Jahren vielfach traumatisiert wurden. Verdrängte traumatische Erfahrungen holen viele Menschen im Alter und insbesondere bei demenzieller Veränderung wieder ein, sie werden reaktiviert. Als Folge reagieren sie oft sehr heftig und abwehrend, ohne dass dies von Pflegenden immer erkannt werden kann. Die Autorin ist überzeugt, dass sorgfältige Biografiearbeit wesentlich für einen angemessenen Umgang mit den pflegebedürftigen Menschen ist. Allerdings erscheint der Rezensentin der Glaube zu optimistisch, dass Wissen von den persönlichen und historischen Zusammenhängen ein tiefergehendes Verständnis dafür ermöglichen, wie die Betroffenen ihre jeweilige Geschichte tatsächlich erleben. Hilfreich ist sicher der Ansatz, in Einrichtungen "Erzählcafes" oder "Schreibwerkstätten" anzubieten, bei denen jene, die dazu noch in der Lage sind, sich untereinander über ihre Lebenserfahrungen austauschen können.
Heinz-Peter Kuhlmann plädiert "für eine ehrliche Debatte über freiheitsentziehende Maßnahmen in der Altenpflege". Ein äußerst gewichtiger Beitrag, der insbesondere aufzeigt, dass der Preis für eine scheinbar erhöhte Sicherheit oft zu hoch ist. Bezahlt werden muss der Preis von jenen, die eigentlich in die Einrichtung gingen, um eine gute Pflege zu erhalten. Wie fühlt sich wohl ein Mensch, dessen Pflege unter anderem darin besteht, dass er - angeblich zu einer eigenen Sicherheit - angebunden, also gefesselt wird? Das kann eigentlich nur als Strafe verstanden werden, aber als Strafe wofür? Wie viel Wut und Hilflosigkeit hier im Namen der Sicherheit produziert wird, kann nur vermutet werden. Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass Freiheit und Autonomie im Alter nicht zum Nulltarif zu haben sind. Sichernde, aber nicht freiheitsberaubende Maßnahmen müssen durch eine gute Organisation gefördert werden, aber dazu gehört auch eine finanzielle Ausstattung, die genügend Personal ermöglicht.
Gerhard Nübel schreibt zu "Ethik in der Altenhilfe". Ein Beitrag, der in dieser Form letztlich überflüssig ist. Er besteht aus einem Sammelsurium nicht hinreichend erläuterter Begrifflichkeiten, die für die Pflegepraxis zwar tatsächlich von Bedeutung, in dieser kursorischen Darstellung aber wenig hilfreich sind. Und nicht zuletzt ist der Verweis auf Ethikkommissionen irreführend, da Ethikkommissionen ausschließlich der Beurteilung medizinischer Forschung dienen und nicht für Ethikberatung etc. eingesetzt werden. Für letzteres ist auch deren Zusammensetzung zu einseitig. Dagegen sind Ethikkomitees sowie Ethikberatung auch in der Pflege bzw. für den interdisziplinären Dialog dringend zu empfehlen, allerdings müssen dafür zunächst die strukturellen Voraussetzungen geschaffen werden.
Friederike Töpler-Rottmann schreibt über "Aggression und Gewalt bei Menschen mit Demenz". Zunächst werden verschiedene Definitionen von Aggression angeboten, die verstehen helfen, dass Aggression viel mit Selbstbehauptung und Abwehr von Angst zu tun haben. Anschließend werden Ausdrucksformen von Aggression durch Bewohner einerseits und Pflegenden andererseits dargestellt, die helfen können, eine präventiven Umgang zu entwickeln. Ob langfristig ein standardisiertes Assessment wirklich einer Eindämmung von Aggression hilft, sei dahingestellt. Die Neigung, in Assessments die Lösung aller Probleme zu sehen, scheint mir derzeit etwas überdimensional verbreitet.
Ute Schmidt stellt sehr kurz das Konzept der "gewaltfreien Kommunikation" nach Rosenberg vor. Ein "ideales" Konzept, das vor allem die Wertschätzung in den Mittelpunkt stellt. Die einzelnen Anregungen können sehr hilfreich sein und es wäre viel gewonnen, wenn vor allen anderen Leitende und Weisungsbefugte diese Kommunikation im Umgang mit den Mitarbeiterinnen lernen und umsetzen würden.
Zusammenfassend bietet das Buch einen gewissen Einblick in das große Themenfeld "Gewalt und Alter" - allerdings bezieht sich alles wieder auf die Pflege. Damit wird unterstellt, dass Gewalt und Alter hauptsächlich mit Pflege zu tun haben. Nicht erörtert wurden unzureichende Strukturen, trotz der Hinweise im Vorwort. Nicht erörtert wurde die Gewalt durch Träger und Einrichtungsleitungen, die für Strukturen mitverantwortlich sind. Nicht erörtert wurde die Gewalt von ärztlicher Seite durch Fehlversorgung alter Menschen, sei es durch Unter- oder Überbehandlung. Nicht erörtert wurde die nicht gerade seltene Ignoranz ärztlicherseits gegenüber pflegerischer Kompetenzen, wenn sie deren berechtigte Anliegen schlicht nicht zur Kenntnis nehmen. Nach diesem Buch ist "Gewalt und Alter" erneut hauptsächlich ein Thema der Pflege - und damit werden Fehlstrukturen weiter zementiert und die Pflege wieder allein gelassen.