Naturheilkunde und Medizinethik im Nationalsozialismus (Sievert, Lars Endrik)Mabuse-Verlag. Frankfurt am Main 1996, 274 S., broschiert, 28,00 € -. ISBN 3-929106-28-0Rezension von: Dr. Hubert Kolling |
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Lars Endrik Sievert hat in den Mittelpunkt seines Buches "Naturheilkunde und Medizinethik im Nationalsozialismus", dem eine Frankfurter medizinische Dissertation aus dem Jahre 1996 zugrunde liegt, die totalitären Wurzeln der Medizinethik im sogenannten Dritten Reich gestellt, soweit sie ihren Ursprung im naturheilkundlichen Kontext haben. Der Autor, nach dem Studium der Philosophie, Literaturgeschichte, Philologie und Humanmedizin seit 1990 niedergelassener Allgemeinmediziner (mit Schwerpunkt Naturheilverfahren), stellt hierbei anhand der Analyse von Texten führender Vertreter der Naturheilkunde im Hinblick auf ihren medizinethischen Gehalt den "nationalsozialistischen Umbruch" von der traditionellen Medizinethik zur unmenschlichen NS-Ethik dar, wobei er folgende Fragen zu beantworten versucht: Haben die Protagonisten der "Neuen Deutschen Heilkunde" nur konsequent die medizinethischen Gedanken weitergedacht, die insbesondere im naturheilkundlichen Kontext entwickelt wurden? Wie konnte es zu der tragischen Situation kommen, dass gerade die Naturheilbewegung in Deutschland, die für das Wohl der Menschen angetreten war, zu einem wesentlichen Element der menschenverachtenden "Neuen Deutschen Heilkunde" wurde? Wo sind die Denkfehler der Nationalsozialisten? Wie konnte aus humanistischen Quellen der Holocaust ethisch begründet werden? Ist die totalitäre Denkstruktur bereits bei den humanistischen Quellen zu finden? Wo ist die Bruchstelle, an der die medizinische Ethik "unmenschlich" wird.
Die Untersuchung gliedert sich in drei große Kapitel. Nach einer ausführlichen Einleitung (S. 13-28), in der Sievert - für den es gilt, "die grundlegenden Denkfehler von damals aufzudecken" (S. 10) - Betrachtungen zur hermeneutischen Methode, zum Begriff Naturheilkunde und zum Begriff der medizinischen Ethik anstellt, dokumentiert das zweite Kapitel (S. 29-120) "Wichtige Quellen der medizinischen Ethik und Naturheilkunde im Dritten Reich". Unterteilt in die Epochen Prähistorie, Altertum, Mittelalter und Frühe Neuzeit, 18. und 19. Jahrhundert sowie 20. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik gelingt es dem Autor, die Ansprüche einer naturheilkundlichen Tradition aufzuzeigen und jene Ansatzpunkte zu verdeutlichen, die später in das nationalsozialistische Denken einflossen.
Im dritten Kapitel (S. 121-239), das sozusagen das Herzstück der Arbeit bildet, analysiert Sievert schließlich die medizinische Ethik und Naturheilkunde im ´Dritten Reich´. Zunächst betrachtet er hierbei die "Krise der Medizin" in der Weimarer Republik, die mit einem Vertrauensschwund in die Ärzteschaft einherging und Kritiker des damaligen Gesundheitssystems wie Erwin Liek auf den Plan riefen. Wie der Autor zeigt, tauchte der Begriff "Neue Deutsche Heilkunde" erstmals 1929 in lebensreformerischen Kreisen auf, die eine Synthese von "Schulmedizin" und Außenseitermethoden anstrebten. Bei der anschließenden, ausführlichen Betrachtung von Konzept und Wandel der "Neuen Deutschen Heilkunde" weist Sievert ausdrücklich darauf hin, dass die oft verbreitete - wenn auch nicht unwidersprochene - These, dass die wesentlichen Aspekte der NS-Medizin Ausdruck und Konsequenz rationalistischer, materialistischer, technizistischer, naturwissenschaftlicher Tendenzen in der Medizin gewesen seien, zu kurz greife, weil sie "das große Feld der praktischen, alltäglichen Medizin in diesem Diskussionszusammenhang wenig beachtet" (S. 135). Seines Erachtens wurden bei der These, die sich vor allem auf das Material des Nürnberger Ärzteprozesses, auf die nationalsozialistische Rassenlehre und ihr Sozialdarwinismus und -biologismus stütze, "die irrationalen, antitechnischen, volks- und naturheilkundlichen Elemente der NS-Medizin [...] nicht angemessen berücksichtigt" (S. 135). So sei die Naturheilkunde "nicht nur wegen persönlicher Vorlieben der Naziführer Hitler, Streicher, Himmler oder Heß zu einem wesentlichen Bestandteil nationalsozialistischer Ideologie" geworden, "sondern vor allem wegen ihrer Funktionalität im Rahmen der vorherrschenden ökonomischen Interessen" (S. 149). Hierzu hält der Autor fest: "Der Patient wurde oft zum Schuldigen an seiner Krankheit und konnte entsprechend härter angefasst werden. Konsumverzicht und Askese, Verzicht auf Fleischkonsum, Anwendung billiger Therapieverfahren (z.B. Fasten, heimische Heilkräuter, Licht- und Luftbäder, Gymnastik) machten die Naturheilkunde zu einer billigen Therapie" (S. 149).
In diesem Zusammenhang schildert Sivert in einem besonderen Abschnitt auch eindrucksvoll, welche Rolle die damals führenden Medizinhistoriker (Diepgen, Rothschu, Sticker) spielten. Ferner zeigt er am Beispiel des Schriftstellers und Arztes Friedrich Wolf, dass es unter den Ärzten auch Naturheilkundler gab, die - wenn auch um den hohen Preis der erzwungenen Emigration - in Opposition zum NS-Staat standen.
Wenngleich die Nationalsozialisten selbst "keine geschlossene NS-Medizinethik" (S. 238) formulierten, genügten Ihnen einzelne Fragmente zur Rechtfertigung von brutalen Morden. Wie die Untersuchung des Autors zeigt, wurde von den Vertretern der "Neuen Deutschen Heilkunde" und der Mehrzahl der naturkundlich orientierten Vertretern der Ärzteschaft eine Medizinethik vertreten, "die als ´unmenschlich´ bezeichnet werden muss" (S. 238). Wie die Analyse von Sievert belegt, waren sich die Protagonisten der "Neuen Deutschen Heilkunde" - trotz der Meinungsvielfalt zu einigen Themen - in wesentlichen medizinethischen Fragen einig. Sie legten ihren Abhandlungen eine Medizinethik zugrunde, bei der der einzelne Mensch "seinen Wert als ´Mensch an sich´" (S. 238) verlor. Nach Ansicht des Autors lässt sie sich folgendermaßen charakterisieren:
"1. Das Individuum ist nicht um seiner selbst willen zu erhalten, sondern nur als Teil des ´Volkskörpers´ erhaltenswert: ´Gemeinnutz geht vor Eigennutz´.
2. Krankheit wird oft als selbstverschuldet angesehen und verdient kein Mitleid. Gesellschaftliche Ursachen werden ausgeblendet.
3. Das Recht auf Krankheit wandelt sich zur ´Gesundheitspflicht´.
4. Der Gesundheitsbegriff wird mit maximaler Leistungsfähigkeit gleichgesetzt. Das Lindern von Leid des Kranken verliert seinen Stellenwert.
5. Der ´politische Arzt´ wird gefordert, der die NS-Ideologie vertritt. Der humanistische, überparteiliche Standpunkt des Arztes wird aufgegeben.
6. Der Naturbegriff bekommt eine sozialdarwinistische, rassistische, antisemitische, totalitäre, sexistische und chauvinistische Tönung.
7. ´Vorsorge´ wird gegenüber der ´Fürsorge´ favorisiert" (S. 238).
Sievert bleibt nicht nur auf der medizinhistorischen Ebene stehen, indem er in einem "Ausblick" (S. 241-250) versucht, seine Forschungsergebnisse mit der Gegenwart zu konfrontieren. Obwohl sich die Frage nach der Kontinuität des nationalsozialistischen Gedankenguts und seiner Bedeutung für die aktuelle medizinethische Diskussion seiner Ansicht nach nur schwer beantworten lässt, leitet er aus seiner Analyse einige Richtlinien einer zukünftigen humanen medizinischen Ethik im naturheilkundlichen Kontext ab, wobei er Gedanken der "Hilfe zur Selbsthilfe" und der "Herrschaftsminderung" zugrunde legt. Der Autor legt nicht nur die Regeln seiner eigenen Praxis dar (S. 244-245); er spricht sich auch dafür aus, dass gesetzliche Regelungen, die zum Beispiel "Risikobeiträge" für rauchende oder adipöse Menschen erlauben, "auf dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung aus der NS-Medizin unterbleiben" (S. 248).
Ergänzt wird die kenntnisreiche Abhandlung durch eine Zusammenfassung (S. 251), ein Literaturverzeichnis (S. 253-274) und ein - leider nicht ganz vollständig erfasstes - Namenverzeichnis (S. 275-277). Lars Endrik Sievert hat mit seiner Untersuchung nicht nur die medizinische Diskussion von bedeutenden Naturheilkundlern in ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit dokumentiert, sondern auch die Entwicklung und Wandlung von Einstellungen und moralischen Werten deutlich gemacht. Sein die besagte Materie tief durchdringendes Buch ist für alle von Bedeutung, die sich für medizinhistorische Fragen interessieren oder in der heute breit geführten Diskussion um medizinethische Fragen mitreden möchten.