»Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte<br> Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik (Rezension)

»Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte
Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik (Frewer, A. und C. Eickhoff (Hrsg.))

Campus Verlag, Frankfurt, 491, S., 78,00 DM, ISBN: 3-593-36639-8

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

Seit einigen Jahren ist "Euthanasie" wieder Gesprächsthema. Zwar werden andere Begrifflichkeiten gewählt, im Ergebnis geht es aber immer um eine ganz alte Frage - die Frage nämlich, unter welchen Bedingungen der Mensch stirbt, was denn ein guter Tod sein kann. Die sog. Sterbehilfe-Debatte ist außerordentlich vielschichtig.
  • Zum einen hat der medizinische Fortschritt dazu geführt, daß die Grenze am Lebensende aufgeweicht ist; es ist heute möglich, das Sterben hinauszuzögern. Das hat dazu geführt, daß dem modernen Menschen eine klare Vorstellung davon, wann das Sterben ein normaler Vorgang ist, abhanden gekommen ist. Eine weitere Folge des medizinischen Fortschritts ist, daß kaum mehr jemand einfach so stirbt, z.B. weil er alt geworden ist; dem Sterben geht in aller Regel eine Entscheidung entweder des Betroffenen oder aber anderer Menschen voraus, daß jetzt dem Sterben nichts mehr entgegengestellt wird.
  • Zum anderen gibt es das, wofür vor vielen Jahren der Begriff des sozialen Todes geprägt wurde. Gemeint ist damit, daß das Leben in den meisten modernen Gesellschaften an Leitvorstellungen wie Jugendlichkeit, Leistungsfähigkeit, Funktionstüchtigkeit u.a.m. geprägt ist, was zur Folge hat, daß in diesen Gesellschaften diejenigen, die diesem Leitbild nicht mehr entsprechen, an den Rand gedrängt, ausgegrenzt werden. Alte und dann sterbende Menschen sind davon in besonderem Maße betroffen, sie vereinsamen, sterben, lange bevor sie tot sind.
Dies hat dazu geführt, daß in verschiedenen Formen die Forderung erhoben wird, dem Leben doch bewußt und aktiv ein Ende setzen zu dürfen. Soweit dies ein Mensch für sich tut, handelt es sich um einen Suizid, und die Einstellung zum Suizid hat in diesem Sinn auch eine Veränderung erfahren. Ganz andere Fragen tauchen auf, wenn gefordert wird, daß andere das Leben eines Menschen aktiv beenden sollen; dies ist besonders dann problematisch, wenn von denjenigen, die Leben aktiv beenden sollen, ansonsten erwartet wird, daß sie alles tun, um Leben zu erhalten - z. B. Ärzte, Pflegende. Die hier anstehenden Fragen sind nicht nur drängende medizinethische Probleme, sie lassen sich auch im Hintergrund vieler anderer medizinethischer Probleme ausmachen.

Überschattet wird das Gespräch über diese Fragen vor allem in Deutschland von der Erinnerung an die Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus, denen unzählige Kranke und Behinderte Menschen zum Opfer gefallen sind. Dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte und der Medizingeschichte darf auf der einen Seite nicht vergessen werden. Auf der anderen Seite kann aber auch der Verweis auf die Verbrechen im Dritten Reich nicht ausreichen, das kritische Gespräch über die Folgen der modernen Medizin, wozu unstrittig gehört, daß die in diesem Bereich Handelnden fortwährend über Leben entscheiden, zu tabuisieren.

Zu dieser schwierigen Gratwanderung leistet das vorliegende Buch einen wertvollen Beitrag. Der 60. Jahrestag der Ermächtigung zu den Euthanasiehandlungen der Nationalsozialisten und die anhaltende Debatte über Sterbehilfe waren Anlaß, dieses Buch vorzubereiten. Dazu beigetragen haben die engagierte Arbeit im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Göttingen, an dem die Herausgeber tätig sind, sowie die Aktivitäten verschiedener Arbeitskreise in der Akademie für Ethik in der Medizin. Den Herausgebern ist es gelungen, 24 Medizinhistoriker, Ärzte, Theologen und Philosophen aus sieben Ländern, die die vielfältigen Facetten des Themas beleuchten, zusammenzuführen.

Im ersten Teil werden die Euthanasie-Handlungen im Dritten Reich dargestellt. Im zweiten Teil wird die weitere Entwicklung der Debatte um Euthanasie bis in unserer Tage nachgezeichnet und Parallelen herausgearbeitet. Ein besonders drängendes Problem ist dabei die Frage, wie sich das Sozialsystem in unserer Gesellschaft unter dem anhaltenden Kostendruck entwickeln wird. Wird es wieder nutzlose Esser geben? Einschlägige Gerichtsurteile müssen aufhorchen lassen. Im dritten Teil wird die Frage erörtert, welchen Beitrag die historischen Ereignisse zu der aktuellen Debatte leisten können.

Es ist bei einem solchen Vielautorenbuch nicht möglich, auf die einzelnen Beiträge einzugehen, auch wenn sie es verdient hätten; einzelne zu erwähnen, ist stets etwas unfair. Bei dem vorliegenden Buch scheint es mir jedoch vertretbar zu sein, eine Au-torin eigens zu erwähnen: Alice Ricciardi-von Platen. Sie ist Ärztin, Psychotherapeutin und Gruppenanalytikerin und war 1946/1947 als Mitglied der deutschen Ärzte-kommission beim amerikanischen Militärgericht zur Beobachtung des Nürnberger Ärzteprozesses anwesend. 1948 veröffentlichte sie, gestützt auf die Gerichtsdokumente, das Buch "Die Tötung der Geisteskranken in Deutschland". Ihre Abhandlung im ersten Teil des vorliegenden Buches über "Die Wurzeln des Euthanasiegedankens in Deutschland" sind so gesehen eben nicht nur die Abhandlung eines Historikers.
Frau Ricciardi-von Platen schrieb noch ein Nachwort für das vorliegende Buch, das - auch wenn es nur zwei Seiten umfaßt - Beachtung verdient. Sie setzt sich in diesem Nachwort mit dem Verhältnis zwischen einzelnem und der Gemeinschaft auseinander. Abschließend heißt es: "In unserer westlichen demokratischen Gesellschaft erhebt sich oft die Frage, wie viel Freiheit der Einzelne beanspruchen kann, wenn das Wohl der Gemeinschaft gefährdet ist; wir erleben, daß in der Massengesellschaft die Rechte des Einzelnen oft vom Staat nicht berücksichtigt werden, und es werden Opfer von Einzelnen oder ganzen Gruppen verlangt. An den ungeahnten Fortschritten der medizinischen Forschung können nur wenige teilhaben, da der technische Aufwand und die Kosten neuer Behandlungen unerschwinglich sind. Ganze Gruppen sind dadurch von lebensrettenden Maßnahmen ausgeschlossen und eine Minderheit wird bevorzugt. Es wird überall versucht, eine ausreichende medizinische Versorgung zu gewährleisten, die den Einzelnen erreicht, aber es wird immer deutlicher, daß wir von diesem Ziel noch weit entfernt sind.
Nicht nur für das Wohl der Gemeinschaft in Gefahr, sondern im Alltagsleben wird der Einzelne auf manche Rechte verzichten müssen; es handelt sich um die Notwendigkeit, die nur ungern durchdacht wird, auf vielen Gebieten des täglichen Lebens wie in der Gesundheitsversorgung Opfer zu bringen. Viktor von Weizsäcker ist einer der wenigen medizinischen Forscher gewesen, der dem Gedanken des Opfers des Einzelnen nachgegangen ist. Wir werden uns in der Zukunft immer mehr mit dem Gedanken befreunden müssen, daß nur eine beschränkte Menge von Gütern für eine immer größere Menschenmenge ausreichen müssen, wir alle also Opfer bringen müssen. Es hat immer Menschen gegeben, die für ihre Mitmenschen Opfer gebracht haben und ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintangestellt haben. So sind die Schwachen und Kranken immer beschützt worden. Auch in unserer Massengesellschaft sollte der Opfergedanke nicht untergehen. Das NS-Ideal des Rechts der Stärkeren hat zu den schrecklichen Verbrechen gegen Andersartige und Schwache geführt. Wenn wir eine andere Kultur anstreben, müssen wir auch lernen, daß freiwillige Beschränkungen eine Lebensnotwendigkeit sind, um eine gesunde Gesellschaft aufzubauen, in der auch der Einzelne zu seinem Recht kommt."

Es genügt eben nicht, einfach nur gegen Euthanasie zu sein; die Dinge sind komplizierter.

Dem Buch ist jedem, der sich auf das schwierige Thema einzulassen bereit ist, sehr zur Lektüre zu empfehlen; es sollte in den Bibliotheken von Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen auf keinen Fall fehlen.