Grenzkonflikte in der Pflege Patientenorientierung zwischen Umsetzungs- und Legitimationsschwierigkeiten (Rezension)

Grenzkonflikte in der Pflege Patientenorientierung zwischen Umsetzungs- und Legitimationsschwierigkeiten (Stemmer, Renate)

Mabuse-Verlag, Frankfurt/M., 2001, 371 S..32 € - ISBN3-933050-79-0

Rezension von: Irmgard Hofmann, MA

Grenzsituationen wie Grenzkonflikte in der Pflege sind ein weites Feld, wurden bisher aber kaum in ihren Dimensionen und Auswirkungen erfasst, geschweige denn intensiv reflektiert. Eher das Gegenteil ist der Fall: Mit dem oft verkündeten Anspruch "ganzheitlicher" Pflege wird implizit behauptet, dass es keine Grenzen geben dürfe - weil Ganzheitlichkeit Grenzen per se ausschließt. Mit Konzepten wie "ganzheitlich-patientenorientierter" Pflege werden gegebene Grenzen schon theoretisch überschritten und überfordern damit die praktische Pflege auf unzulässige (um nicht zu sagen: unmoralische) Weise. Erst allmählich dringt es in das Bewusstsein einiger weniger Pflegetheoretikerinnen, wie unmöglich dieser Anspruch eigentlich ist. Menschen haben Grenzen - auf der körperlichen, psychischen, sozialen und intellektuellen Ebene; das gilt auch für Pflegende und zu pflegende Personen. Grenzkonflikte und -überschreitungen sind inhärenter Bestandteil direkter Pflegearbeit und gleichsam konstitutiv, das heißt, ohne Grenzüberschreitung kann der Beruf nicht ausgeübt werden. Das gilt offensichtlich für die körperlich-leibliche direkte Pflege des Hilfsbedürftigen, das gilt aber auch für die psychosoziale Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen. Gleichzeitig braucht das positive Annehmen des Anderssein des Anderen anzuerkennende Grenzen, um nicht in einer unprofessionellen Pseudo-Identifikation zu verschmelzen und damit dem Betroffenen sein Anderssein zu nehmen.

Diesem nur angedeuteten Sachverhalt geht das Buch auf etwas eigenwillige Weise nach. Die vorliegende Dissertation wurde von dem Ziel geleitet, "die Ausgangsbedingungen pflegepädagogisch-didaktischer Anstrengungen" (S. 17) heraus zu arbeiten. Im Verlaufe ihrer Arbeit stellte die Autorin - sie ist Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe, Diplompädagogin und arbeitet mittlerweile als Professorin für Pflegewissenschaft und Pflegemanagement an der KFH Mainz - dann fest: "Die Konfrontation mit Grenzen in der Pflege beschränkt sich keineswegs auf als extrem erlebte und bewertete Situationen, sondern ist inhärenter Bestandteil pflegebezogenen Denkens, Handelns und Erlebens sowie der pflegerischen Begegnung. Dieses Ergebnis war nicht vorauszusehen. ... Die Grenzthematik drängte sich jedoch im Verlauf der Bearbeitung in den Vordergrund." (S. 14)

Das Buch ist in vier Schwerpunkte gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit "Sexualität in der Pflege" im weitesten Sinne. Nach einer ausführlichen Literaturanalyse, die sich notgedrungen überwiegend mit englischsprachiger Literatur beschäftigt, weil die Thematik im deutschen Sprachraum bislang kaum bearbeitet ist, folgen Ergebnisse aus einer von der Autorin selbst durchgeführten qualitativen Untersuchung mit Auszubildenden zum Thema. Sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Pflegerische und sexuelle Handlungsweisen liegen oft gefährlich nahe beieinander, die Grenzen können im Erleben sehr schnell verschwimmen. Das klassische Beispiel: Waschen im Intimbereich. Ob die Pflegehandlung als neutral oder eher sexuell gefärbt erlebt wird, hängt davon ab, wie Pflegende die Situation, ihre Rolle und ihre Wahrnehmungen bezogen auf die Absicht der Patienten interpretieren. Generell lässt sich sagen, dass alle Interviewten sexuelle Belästigungen in der einen oder anderen Weise erlebt haben. Eine durchaus gewünschte Grenzziehung zwischen Pflege und Sexualität wird auf Grund unzureichender Versprachlichung deutlich erschwert. Anders formuliert: Es fehlen oft die Worte - und damit eine ganz entscheidende Ebene der Reflexions- und Bearbeitungsmöglichkeit.

Der zweite Teil ist der kritischen Analyse von pflegerischen Leitkonzepten gewidmet. Die Analyse erfolgt nach dem hermeneutischen Prinzip und behandelt die am häufigsten genannten Grundorientierungen: das patientenorientiert-ganzheitliche Pflegeverständnis, das patientenorientiert-partnerschaftliche Pflegeverständnis, das patientenorientiert-kundenbezogene Pflegeverständnis, das patientenorientiert-multidimensionale Pflegeverständnis, das patientenorientiert-sorgend/zugewandte Pflegeverständnis. Die Auseinandersetzung erfolgt jeweils nach dem gleichen Prinzip: Welche Vorannahmen und Ansprüche stellt das Konstrukt von Patientenorientierung, sind die eigenen Ansprüche zu halten? Welches Patientenbild verbirgt sich hinter dem jeweiligen Konzept? Wo finden sich logische Widersprüche und inhärente Brüche, wo fehlen klare Aussagen?

Die Autorin kommt zu dem überzeugenden und gut begründeten Schluss, dass keines der Konzepte einer strengen Prüfung standhalten kann und somit als "Rezept" unbrauchbar ist. Gleichzeitig stehen sie als konkurrierende Konstrukte nebeneinander. Jede Position beansprucht für sich, die "Richtige" zu sein und fördert damit Orientierungslosigkeit und Verunsicherung. Eine überzeugende Didaktik sollte sich demnach nicht streng an einem Konzept ausrichten, sondern den Umgang mit der Begrenztheit von und der Unentscheidbarkeit zwischen theoretischen Konzeptionen lehren.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit "Grenzen zwischen Pflegenden und Gepflegten". Stemmer beginnt mit grundsätzlichen Erwägungen, dass der oder das Andere dem Eigenen immer entgegensteht und somit "fremd" ist. Sie greift damit Überlegungen auf, die seit Langem in der Philosophie (z.B. Merleau-Ponty, Waldenfels, Bauman, Finkielkraut) und Psychoanalyse (z.B. Freud, Mentzos, Erdheim, Bauriedl) diskutiert werden, und setzt diese ins Benehmen zur Pflege. "Fremdheit kann in verschiedenen Referenzrahmen diskutiert werden. Zu unterscheiden sind ein sächlich-objektives Fremdes (z.B. der Tod, die Krankheit, das Unheimliche) von einem Begriff der Fremde, der sich auf ein fernes Territorium bezieht (z.B. Pflegeheim), sowie von dem Fremden als einer Person, die ich getrennt von mir wahrnehme. Alle drei spielen in der Pflege eine Rolle." (S. 209)

Pflegearbeit ist regelgeleitetes Arbeiten mit Menschen, die immer wieder anders sind. Damit sind die Grenzen auch schon vorgegeben. Pflegerische Standards sind Regeln, die von Pflegenden individuell an die Bedürfnisse von Patienten angepasst werden sollen, ohne an Qualität einbüßen. Das setzt die Möglichkeit voraus, die Bedürfnisse immer wieder genau zu erkennen, was bei der Fremdheit des Anderen nur ansatzweise gelingen kann. Ignoriert wird vielfach auch das Machtgefälle zwischen Pflegenden und Gepflegten, das zur Vereinnahmung des Anderen führen kann sowie der institutionelle Bezugsrahmen.

Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit den pflegepädagogisch-didaktischen Konsequenzen, die aus dem Vorausgegangenen zu ziehen sind. Erst in diesem Teil werden Schlussfolgerungen gezogen, die einen Zusammenhang herstellen, der über die bloße Exemplifikation von Pflege und ihren Grenzen hinaus geht. So, etwa wenn die Autorin schreibt, "dass Abgrenzungsschwierigkeiten, die auf der theoretischen Ebene beobachtet werden können, sich im pflegepraktischen Feld wiederholen und konkretisieren." (S. 309) Stemmer plädiert dafür, eine reine Wissensvermittlung aufzugeben zu Gunsten einer Lehre des Umgangs mit Phänomenen wie Sexualität in der Pflege, des Umgangs mit Grenzen und Grenzkonflikten, des Umgangs mit der Fremdheit des Anderen (was auch für das Verhältnis der Lehrenden zu Auszubildenden gilt), des Umgangs mit Widersprüchlichem und Unentscheidbaren, des Umgangs mit Nichtwissen als Grundlage einer Entscheidung.

Der Autorin gebührt große Anerkennung für ihre intensive Auseinandersetzung mit einem bisher aus der Pflege weitgehend ausgegrenzten Thema, den real vorhandenen Grenzkonflikten, Grenzüberschreitungen und Grenzziehungen. Kritisch anmerken möchte ich die relative Unverbundenheit der ersten drei Teile. Zwar sind sie in sich jeweils schlüssig und nachvollziehbar dargestellt, aber beim Lesen beschlich mich immer wieder die Frage, ob es einen näheren Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen gibt, der über die Leitbegriffe "Pflege" und "Grenzen" hinaus geht. Als ich endlich zu Teil vier kam, der die Verbindung über die Pflegedidaktik herstellt, hätte ich die Conclusio am Ende fast übersehen. Insofern wünschte ich mir, dass die qualitative Untersuchung am Anfang deutlicher als Folie für die weiteren Teile gedient hätte. Ich gebe aber zu, dass dies methodisch nur sehr schwer zu bewerkstelligen wäre.

Für wen ist das Buch geeignet? Auf jeden Fall sollten es alle Pflegetheoretiker/innen und -studenten/innen lesen, die sich mit Pflegepädagogik und Pflegekonzepten jeglicher Art beschäftigen. Sehr erhellend ist es für jene, die sich wie die Rezensentin mit der Grenzproblematik in der Pflege aus Sicht der Ethik beschäftigen. Weniger geeignet scheint es mir - mit Ausnahme des ersten Teils - für Pflegepraktikerinnen, weil sich der Inhalt zeitweilig auf hohem Abstraktionsniveau bewegt. Allerdings wäre es mehr als wünschenswert, wenn wesentliche Inhalte in einer weiteren Arbeit sprachlich so "übersetzt" werden könnten, dass es für die Pflegenden vor Ort ohne große Probleme lesbar würde. Rein inhaltlich gesehen würden sich dann vermutlich viele Pflegende endlich auch einmal von der Theorie verstanden fühlen. Anders formuliert: Das Buch kann sehr viel dazu beitragen, die sich tendenziell eher vergrößernde Kluft zwischen Theorie und Praxis etwas zu überbrücken. Insofern wünsche ich mir für das Buch ganz viele Leser/innen.