Thiemes Pflege Professionalität erleben (Rezension)

Thiemes Pflege Professionalität erleben ()

Georg Thieme Verlag, 2004, 10., neubearb. Aufl., XLV + 1155 S., 69,95 € - ISBN 3-133-500010-9

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

Als jemand, der mit "Juchli 1" in den Beruf gestartet ist und ein gewisses Interesse an der Entwicklung des Berufes nicht verloren hat, ist die Neuauflage des guten alten Lehrbuches alle vier Jahre immer wieder spannend. Solange die Erstherausgeberin die Neuauflage noch selbst besorgte, lag der Interessenschwerpunkt darauf, wie sich die Philosophie des Buches weiterentwickelte. Mit dem Erscheinen der 9. Auflage sind andere Fragen in den Vordergrund gerückt. Die Vorstellung der Neuauflage kann sich nicht auf die Inhalte des Vielautorenwerkes kaprizieren - damit wäre vermutlich auch ein einzelner Rezensent überfordert -, es müssen Fragen der Konzeption fokussiert werden.

Beim Erscheinen der "Juchli 9" im Jahr 2000 entstand der Eindruck, dass die Seitenangabe in den bibliografischen Angaben obsolet geworden sei und durch eine kg-Angabe ersetzt würde (Pflege heute stand in nichts nach). Beim In-die-Hand-Nehmen der "Juchli 10" war man da doch positiv angetan - es ist zwar immer noch ein erheblicher Wälzer, aber gegenüber der Vorauflage deutlich abgespeckt. Dies wurde dadurch erreicht, dass man eine kleinere Schrifttype und entsprechend einen geringeren Zeilenraum gewählt hat. Wenn man davon ausgeht, dass die überwiegende Mehrzahl der Leser eher jünger ist und mit den Augen noch keine Akkomodationsschwierigkeiten hat, mag dies angehen - für mich war auch mit Gleitsichtbrille schon die punktuelle Lektüre sehr mühsam. Insoweit wird der positive Ersteindruck relativiert. Unschädlich ist sicher die dreispaltige Anordnung des Textes, wodurch Raum gespart wurde. Eindeutig positiv ist, dass eine Fülle Bilder, die zu dem Umfang der 9. Auflage beitrugen, aber kaum Erkenntniswert besaßen, entfallen sind. Das Einsparpotenzial an nutzlosen Abbildungen ist allerdings noch lange nicht erschöpft - einige Beispiele: Schon in der 9. Auflage hatte die Bilderserie zum Beziehen eines Bettes mit Patient so gut wie keinen Erkenntniswert (im Übrigen: es gab auch 2000 schon Spannbetttücher); die Bilderserie wurde leider nicht nur beibehalten, sondern um eine Bilderserie zum Beziehen des Bettes ohne Patient erweitert, der nun wirklich keinerlei Erkenntniswert zugesprochen werden kann (der hier enthaltene bildliche Hinweis auf die korrekte Ausführung der Leintuchecke erinnerte mich in fataler Weise an die Bettenprüfung am Ende meines ersten Ausbildungshalbjahres - dies liegt allerdings gut 30 Jahre zurück und war damals schon nicht ganz frei von unfreiwilliger Komik - und bezüglich des schön straff gezogenen Leintuchs wäre ggf. das Studium neuerer Literatur zweckmäßig, wonach genau dies zum Entstehen eines Dekubitus beiträgt). Ähnlich erhellend sind die Bilderserien zum Duschen und Baden eines Patienten. Soweit zum ersten Eindruck.

Die Gliederung des Lehrbuches ist beibehalten worden:

  • Grundlagen der Pflege
  • Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und auswerten (vorher: Aktivitäten des täglichen Lebens)
  • Gesundheitspflege - Unterstützung, Beratung und Anleitung in gesundheits- und pflegerelevanten Fragen
  • Pflege von Patienten mit speziellen Erkrankungen
  • Pflegerische Aufgaben bei medizinischer Diagnostik und Therapie.
Die einzelnen Kapitel wurden überarbeitet und zum Teil anders überschrieben. Am Ende der Kapitel gibt es in der neuen Auflage nicht mehr einfach nur ein Literaturverzeichnis und ggf. Internetadressen, sondern einen "Lern- und Leserservice", in dem noch einmal zentrale Punkte zusammengefasst sind. In den Kapiteln zu den Aktivitäten des täglichen Lebens sind die Unterkapitel "Phänomene wahrnehmen und beurteilen" entfallen.

Auf die Veränderungen im Detail einzugehen, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen. Vor allem in den Kapiteln im ersten Abschnitt bleiben die Ausführungen zu vielen Inhalten notwendig sehr oberflächlich. Dass hier die Kapitel "Pflegeleitbild" und "EDV in der Krankenpflege" entfallen sind, ist sicher kein Schaden - vermutlich wäre es sinnvoll, noch einige andere zu sehr verkürzte Ausführungen einfach zu streichen. Einige Kapitel sind neu aufgebaut, wobei manches einleuchtet, anderes wiederum nicht so sehr, so beinhaltet z. B. das Kapitel "ATL-Sich bewegen" in der neuen Auflage fast ausschließlich Ausführungen zu den Prophylaxen (ausführlich) und zur Unterstützung bei der Mobilisation (eher knapp); die grundlegenden Ausführungen zur Bewegung und zum Bewegungsapparat in der neunten Auflage sind entfallen. Im dritten Abschnitt sind die Erfahrungsberichte aus dem Ausland entfallen, was zu begrüßen ist.

Die Bezeichnungen der ATL sind dankenswerter Weise beibehalten worden.

Die "pflegerisch relevanten Laborparameter" sind aus dem Anhang herausgenommen worden und mit den Ausführungen zu den bildgebenden Verfahren zu einem Kapitel in dem letzten Abschnitt geworden, womit selbstverständlich die Pflegerelevanz noch nicht besser ausgewiesen ist. Im Anhang wurden neu Abbildungen als Kopiervorlagen zusammengestellt. Dies ist zweifelsfrei zu begrüßen. Leider enthalten viele Vorlagen Rasterflächen, die wiederum ein Kopieren mit brauchbarem Ergebnis sehr erschweren bzw. umgekehrt eher als Kopierschutz wirken.

Ganz neu in der zehnten Auflage sind vier CDs mit kurzen Filmsequenzen, in denen pflegerische Handlungsabläufe dargestellt werden. Diese Filmsequenzen sind sicher wesentlich instruktiver als viele Abbildungen im Buch. Zu den Filmsequenzen ließe sich manche Anmerkung machen; vieles ist wirklich gut dargestellt. Bei der Mobilisation eines Halbseitengelähmten nach Bobath ist leider nicht aufgefallen, dass die Darstellung im Film zwar die vielfältig geübte (keineswegs rückenschonende) Praxis widerspiegelt, leider aber nicht der korrekten Darstellung im Buch entspricht.

Ebenfalls neu ist - die Unterrichtenden werden sich freuen - eine tabellarische Aufstellung, welche Inhalte des Buches welchen Teilen der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung zuzuordnen sind.

Insgesamt ist den Herausgebern in den vier Jahren eine enorme Neuerungsarbeit zu attestieren. Die "Juchli" hat in vielerlei Hinsicht gewonnen. Das Grundproblem, dass das Lehrbuch zu einer eierlegenden Wollmilchsau aufgeblasen wurde, ist allerdings in keiner Weise gelöst - es wundert, dass bei Thieme noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, ein Medizinlehrbuch mit ergänzenden Ausführungen zu Bereichen der benachbarten Disziplinen in Angriff zu nehmen.

Auch wenn das vorliegende Lehrbuch wieder unter die 3-kg-Grenze gedrückt wurde, wird sich, so ist zu befürchten, dennoch manche 17jährige, die die Ausbildung zur Krankheits- und Gesundheitspflegerin aufnimmt, davon erschlagen fühlen.