Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – Ein Porträt (Hoyer, Timo)Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2008, 623 S., 39,90 €, ISBN 978-3-525-40408-9Rezension von: Manfred Kienzle |
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Die Titel seiner Bestseller wurden in den sechziger Jahren zu Metaphern, mit denen wesentliche Züge der bundesrepublikanischen Gesellschaft beschrieben werden konnten. Weit über den großen Kreis der Leser hinaus waren seine Formulierungen über die „Unfähigkeit zu trauern“, die „Vaterlose Gesellschaft“ oder die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ in aller Munde und gaben Anlass zu kontroversen Diskussionen.
Alexander Mitscherlich war einer der großen Intellektuellen der Bonner Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur ihre eigene Disziplin einen Schritt voranbrachten und deren Institutionalisierung bewirkten, sondern auch unermüdlich darum bemüht waren, ihre Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen und diese dadurch weiterzuentwickeln. Für den Mediziner und Wissenschaftler Mitscherlich gehörten psychoanalytisches Denken, eine sozialwissenschaftliche Sichtweise und politisches Engagement untrennbar zusammen.
Timo Hoyer, wissenschaftlicher Assistent am Sigmund Freud Institut in Frankfurt, zeichnet in seinem zum 100. Geburtstag Mitscherlichs veröffentlichten umfangreichen Porträt dessen Wirken „Im Getümmel der Welt“ unter Berücksichtigung zuvor noch nicht zugänglicher Dokumente nach und macht Mitscherlichs Werdegang auf beeindruckende Weise transparent.
Dabei war der Weg des Publizisten und Psychoanalytikers alles andere als geradlinig. Als vielseitig interessierter junger Mann begann der 1908 Geborene seine akademische Laufbahn mit einem Studium der Geschichtswissenschaft und betätigte sich als Buchhändler und Verleger. Obwohl er, wie es aus den von Hoyer durchforsteten Dokumenten schlüssig hervorgeht, in dieser Zeit durchaus antidemokratische Überzeugungen hatte und mit nationalistischen und militaristischen Zeitgenossen wie Ernst Niekisch und Ernst Jünger enge Kontakte hatte, ja diese sogar als Vaterfiguren verehrte, geriet er schnell mit den Machthabern des Dritten Reichs in Konflikt, weil ihm die Fähigkeit zur bedingungslosen Anpassung abging. Einige Zeit verbrachte er daher im Gefängnis. Da ihm danach klar war, dass er unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen weder sein Studium noch seine verlegerische Tätigkeit würde fortsetzen können, entschloss er sich, in einem nützlichen und möglichst von der Politik nicht tangierten Arbeitsfeld zu überwintern, und nahm ein Medizinstudium auf. Dass ausgerechnet seine ärztlichen und wissenschaftlichen Kollegen sich tief in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickten, war für den jungen Mediziner Mitscherlich ein entscheidender Einschnitt, der sein gesamtes späteres Leben prägen sollte. Zu seinem Entsetzen bemerkte Mitscherlich, dass nicht politischer Opportunismus die Mediziner dazu brachte, ihr Berufsethos zu verraten, sondern umgekehrt die innere Logik ihres Medizinverständnisses sie dazu brachte, auf besonders barbarische Weise mit den Opfern umzugehen, die ihnen der nationalsozialistische Machtapparat zur Verfügung stellte.
Seine Einsicht, dass die naturwissenschaftliche Medizin daran kranke, dass sie den Patienten auf die Stufe eines bloßen Objekts herabrücke, an dem lediglich funktionsgestörte Körperteile zu behandeln seien, erklärte nicht nur den sadistischen Umgang mit Menschen im Dritten Reich, sondern diente auch als Grundlage seiner späteren Kritik an einer seelenlosen Apparatemedizin. In seinen Urteilen blieb Mitscherlich zeitlebens scharf: „Der Patient wird natürlich heute nicht von Perversen zu Tode gequält,“ resümierte der selbst schwer kranke Mitscherlich, „aber der Kranke wird zum totalen Objekt, zur `Sache´.“
Mitscherlich selbst schlug den Weg in die Psychoanalyse und die Psychosomatik ein, da er davon überzeugt war, dass Krankheiten misslungene Anpassungsprozesse an die gesellschaftlichen Bedingungen sind und es gelte, mit dem Patienten als Partner den Weg zur Heilung zu gehen, in dem die verborgenen Ursachen der Krankheit transparent gemacht werden. Hoyer belegt schlüssig, dass der historisch interessierte, gesamtgesellschaftlich denkende Mitscherlich den von Anna Freud beschrittenen Weg der Entpolitisierung selbstverständlich als Irrweg betrachten musste. Die Krankheit allenfalls im Zusammenhang neurotisierender familiärer Bedingungen zu erörtern, erschien ihm als eine banalisierende Verflachung. Dem Kranken zur Einsicht in seine gesamten Lebensbedingungen zu verhelfen und darüber hinaus der ihn krank machenden Gesellschaft publizistisch den Spiegel vorzuhalten, war für Mitscherlich eine untrennbare therapeutische Aufgabe.
Detailgetreu beschreibt Hoyer den unermüdlichen Mitscherlich, der immer mehrere Eisen im Feuer hatte und sich selbst im Augenblick seines größten Triumphes, der Eröffnung des „Instituts und Ausbildungszentrums für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin“ in Frankfurt nicht mit dem Erreichten zufriedengab, sondern unermüdlich neue Wege beschritt. In der detaillierten Darstellung auch der vielen unvollendeten Projekt Mitscherlichs und der unzähligen beschrittenen Sackgassen, in die es den rastlosen Intellektuellen verschlug, liegt die eigentliche Stärke des Buches. Hoyer begeht nicht den Fehler, seinen wissenschaftlichen Ahnherrn Mitscherlich dem Leser in mildem Lichte eines ehrenden Wohlwollens darzustellen. Mitscherlichs bei all seinen herausragenden Leistungen doch deutlich zutage tretende Sprunghaftigkeit und seine Unfähigkeit, langfristig stabile Bindungen einzugehen, werden ebenso offen gelegt wie die zunehmende Resignation des alternden Mitscherlich. Letztendlich ist auch Mitscherlichs sich rapide verschlechternder Gesundheitszustand als eine nicht mehr gelingende Anpassungserscheinung zu deuten. Mit zunehmendem Alter musste Mitscherlich feststellen, dass er mehr und mehr aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwand und sich eingestehen musste, sein Pulver verschossen zu haben. Dass auch das wissenschaftliche Interesse am Theoretiker Mitscherlich weitgehend verschwunden ist, ist das überraschende Ergebnis aus Hoyers Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur. Hoyers beeindruckende Studie sollte Anlass geben, sich wieder intensiv mit Mitscherlichs Wirken und seinen Thesen, die wenig von ihrer Aktualität verloren haben, auseinanderzusetzen. Noch müssen nicht alle Texte Mitscherlichs antiquarisch besorgt werden.