Gewalt in der institutionellen Altenpflege<br> Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“ Band 16 (Rezension)

Gewalt in der institutionellen Altenpflege
Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“ Band 16 (Förster, Christine)

Mabuse-Verlag, Frankfurt, 2008, 158 S., 20,00 €, ISBN 978-3-940529-31-2

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

In der Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“ werden Fachtagungen und -veranstaltungen sowie wissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema veröffentlicht. Die in dem Band 16 der Rei-he publizierte Arbeit wurde als Diplomarbeit im Fach Sozialarbeit an der Ev. Fachhochschule Ludwigshafen, Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen, vorgelegt und angenommen. In der Arbeit wird untersucht, welche biografischen und sozialen Konstellationen auf die Ausübung von Gewalt in der institutionellen Altenpflege eine Rolle spielen und welche Res-sourcen zur Reduktion der Gewalt vorhanden sind.

Die Struktur der Diplomarbeit ist in das Buch übernommen worden:

  • Theorie
  • Methodisches Vorgehen
  • Auswertung und Gegenüberstellung der Interviews
  • Diskussion
  • Implikationen für die soziale Arbeit.
In dem Theorieteil wird nach knappen Begriffsdefinitionen das Phänomen „Gewalt“ auf drei Ebenen beleuchtet:
  • der Makroebene – gesellschaftliche Bedingungen
  • der Mesoebene – institutionelle Bedingungen
  • der Mikroebene – persönliche Bedingungen.
Der Hauptteil der Arbeit besteht aus Interviews mit zwei Altenpflegerinnen und einem Altenpfleger, die ausführlich dokumentiert und interpretiert sowie einander gegenübergestellt wer-den. Der Untersucherin gelingt es, in den narrativen Interviews die komplexen Anteile von biografischen, institutionellen sowie gesellschaftlichen Ursachen der Entstehung von Gewalt in Pflegebeziehungen in der institutionellen Altenhilfe deutlich werden zu lassen. Dabei geht es ihre expressis verbis darum, keine Schuldzuweisungen auszusprechen oder gar die Pfle-genden anzuklagen, denen sie hohes Engagement attestiert.

Die Untersuchung verdient durchaus, zur Kenntnis genommen zu werden. Allerdings sind die Ergebnisse nun auch wiederum nicht so sehr überraschend; anders formuliert: Die Ergebnisse bleiben etwas an der Oberfläche. Vor diesem Hintergrund seien hinsichtlich der Frage, ob durch die Ergebnisse der Untersuchung, wie Professor Dr. Sahmel von der FH Ludwigshafen im Vorwort meint, die ethische Problematik des Themas „Gewalt in der institutionellen Alten-pflege“ eine „brisante Zuspitzung“ erfährt, einige Anmerkungen erlaubt.

  • In dem einleitenden Theorieteil werden Formen der Gewalt in der Pflege aufgelistet und sehr wohl differenziert in physische, psychisch/emotionale, finanzielle Gewalt, aktive und passive Vernachlässigung, strukturelle und kulturelle Gewalt, Einschränkung der freien Willensäuße-rung/Freiheitsbeschränkung sowie sexueller Missbrauch. Hier vermisst der aufmerksame Leser zum einen die Unterscheidung in Gewaltformen, die von Pflegenden ausgehen, und solchen, die nicht von diesen ausgehen, sowie die Differenzierung zwischen Gewalthandlungen, die mit Absicht, und solchen, die versehentlich erfolgen. Die Verabreichung falscher Medikamente erfolgt zwar in der Regel durch Pflegende, potenziell aber eher selten absichtlich (aktive Euthanasie). An einer Psychopharmakotherapie gegen den Willen der Bewohner sind Pflegende bestenfalls als Initiatoren beteiligt – oder es werden sinnvolle Kontrollmechanismen ausgehebelt – aus Gründen der Beschaffung sind in jedem Fall Ärzte beteiligt. Diesbezüglich wäre etwas mehr Differenzierung wünschenswert gewesen.
  • Das Hauptproblem bezüglich der Aufzählung der Gewaltformen in der Pflege besteht aber nicht in der nicht hinreichenden Differenzierung, sondern darin, dass nur Handlungen aufgelistet werden, die unbesehen als Gewalthandlungen eingestuft und entsprechend als nicht akzeptabel angesehen werden. Damit wird suggeriert, dass Pflege, wenn sie denn nur richtig betrieben wird, gewaltfrei ist. Dieser Frage wäre Aufmerksamkeit zu widmen. Befremdlich ist, dass die einschlägige Betrachtung von Irmgard Hofmann keine Erwähnung findet, auch nicht im Literaturverzeichnis erscheint. Pflege umfasst, so Irmgard Hofmann, immer – d. h. auch richtig betrieben – Akte der Grenzüberschreibung und ist damit grundsätzlich nicht gewaltfrei. Damit stellen sich einige Fragen, die in der vorliegenden Untersuchung natürlich außen vorbleiben, da die Problematik im Vorfeld nicht bedacht wurde. Anzuerkennen, dass pflegerisches Handeln stets auch Gewaltanteile hat, würde bedeuten, darüber zu reflektieren, unter welchen Bedingungen diese als akzeptabel angesehen werden können. Zu bedenken wäre z. B. das, was kürzlich eine Sozialarbeiterin in einem Interview über ihre Erfahrungen als Patientin sagt: „Auf die Haltung kommt es an.“
  • An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Unstrittig ist das Überstülpen eines Tagesablaufes in einer Heimeinrichtung eine Form der Gewalt. Nur, wer dies so sagt, ist in der Pflicht, aufzuzeigen, welche Alternativen bestehen. Selbstverständlich sollen Alternativen, maximale Flexibilität erprobt werden, aber was macht man mit an Demenz erkrankten Menschen, die nicht mehr in der Lage sind, selbstständig den Tag zu strukturieren. Der Vorwurf, Tagesabläufe in stationären Einrichtungen seien Gewaltakte, impliziert bei genauem Hinsehen meist – und in einem Interview wurde dies auch so formuliert –, dass es das „Normale“ und „Richtige“ sei, wenn die alten Menschen zu Hause bleiben und dort sterben. Dass die Betreuung im häuslichen Setting immer den Wünschen der zu Pflegenden folgt und gewaltfrei ist, kann nur jemand glauben, der diese Versorgung nie erlebt oder wenigstens sorgfältig untersucht hat. Eine solche Feststellung sollte also nie so stehen bleiben. Dies ist nicht das einzige Beispiel, bei dem die Untersucherin die von den Interviewten formulierten Sichtweisen kommentarlos stehen lässt. Ein weiteres Beispiel: Dass Pflegende schlecht bezahlt werden, ist Allgemeingut und wird auch von den meisten im Pflegebereich Tätigen so empfunden. Überprüft ist dieser beliebte Topos allerdings selten. Die Autorin der vorliegenden Studie kommt so in ihren Schlussfolgerungen auch zu der pauschalen Forderung nach besserer Bezahlung, statt anzuregen, die Tarifgefüge in diesem Bereich einmal genauer zu betrachten und vor allem den Missstand der untertariflichen Bezahlung zu unterbinden, der in Form der Beschäftigung zahlloser geringfügig beschäftigter und damit nicht oder schlecht eingearbeiteter Pflegekräfte von vielen Heimträgern (vor allem kirchlichen) betrieben wird und in der Tat zu organisatorischen Zuständen führt, die Gewalt induzieren.
  • Sowohl im Theorieteil als auch in der zusammenfassenden Betrachtung kommt die Autorin auf das Dogma „ambulant vor stationär“ zu sprechen. Leider verfolgt sie diesen Aspekt nicht weiter, wonach dann auch zumindest in den abschließenden Implikationen für die soziale Arbeit keine kritische Auseinandersetzung mit dieser Devise, die einem sozialpolitischen Offenbarungseid gleichkommt, erfolgt.
  • Es wird zutreffend herausgearbeitet, dass die Forderung des MDS und vieler Heimaufsichten nach überprüfbaren Standards für die Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr in den Heimeinrichtungen zu viel Stress führt. Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr ist in einem hohen Maß mit Gewaltaktionen verbunden, das geht auch aus den Interviews hervor. Hier wäre auch im Hinblick auf die Implikationen für die soziale Arbeit zu verdeutlichen, dass dieser Stressfaktor in den Heimeinrichtungen ganz zentral mit der globalen gesellschaftlichen Weigerung zu tun hat, einmal einzugestehen, dass es normal ist, wenn ein alter Mensch weniger isst und trinkt. Auch wenn man in der Praxis erstaunt ist, wie lange ein Mensch entgegen allen Lehrbuchweisheiten mit wenig Nahrung und Flüssigkeit leben kann, setzt dies aber voraus, anzuerkennen und zu akzeptieren, dass ein Mensch, wie auch immer lebensgeschichtlich be-gründet, nicht mehr wollen darf – und in der Konsequenz selbstverständlich stirbt – und dies nicht immer Ausdruck einer zu behandelnden psychiatrischen Erkrankung ist - und schon garnicht von den Pflegenden in den Heimeinrichtungen behoben werden kann.
Eine kritische Anmerkung an den Verlag sei gestattet: Gegen die Geschichte mit dem großen Buchstaben mitten im Wort anzuargumentieren, ist inzwischen sinnlos geworden. Bezüglich des vorliegenden Buches ist eine Anmerkung deshalb angebracht und notwendig, weil dieser orthografische Unfug noch getoppt wird: Vermutlich ein schlechtes und nicht überprüftes Korrekturprogramm trennt „ProbandInnen“ in „Proband Innen“, womit Gendercorrectnes zur orthografischen Karikatur verkommt.