Ethik im Gesundheitssystem (Rezension)

Ethik im Gesundheitssystem (Wallner, Jürgen)

Facultas, Wien, 2004, 288 S., 20,50 €, ISBN 978-3-85076-672-2

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

Ethik in der Medizin gibt es schon lange – und so lange Ärzte die entscheidenden Akteure eines Gesundheitsversorgungssystems waren, mag dies auch ausreichend gewesen sein, um die ethischen Implikationen des Handelns in diesem Bereich zu bedenken. Nun hat sich das, was als Gesundheitsversorgungssystem bezeichnet werden kann, in den letzten Jahren in einem Maße ausdifferenziert, dass sich ein Fülle von Fragen stellt, mit der eine medizinische/ärztliche Ethik alleine überfordert wäre. Allein die seit einem knappen Jahrhundert in nahezu allen Industriestaaten anhaltende Diskussion um die Finanzierung der Gesundheitsversorgung macht deutlich, dass das Gespräch über die ethischen Implikationen in diesem Handlungsbereich eine gesellschaftliche Aufgabe ist.

Der Autor des vorliegenden Buches ist katholischer Theologe und Jurist mit Arbeitsschwerpunkt politische Philosophie sowie Sozial- und Medizinethik; er ist in verschiedenen Gremien in Wien tätig. Mit dem Buch verfolgt er das Ziel, die „verschiedenen Gesprächspartner zusammenzubringen. Kritische und vernünftige Menschen aus allen Gesellschaftsbereichen müssen voneinander und miteinander lernen, um das Gesundheitssystem in rechter Weise gestalten zu können. Daher ist es wichtig, die Sprache des Anderen zu lernen, seine Methodik und Ziele nachvollziehen zu können.“ Im Vorwort misst er der Ethik keine übergeordnete Funktion bei: „Denn in einer offenen pluralistischen Gesellschaft müssen politische Ziele gemeinsam gefunden werden. Die Ethik kann nur ‚Orientierungswissen‘ bereitstellen, Frage- und Argumentationsweisen aufzeigen und Werteinstellungen kritisieren bzw. legitimieren helfen. Das Gesundheitssystem ist voll von derartigen Werteinstellungen, doch gerät dies oftmals gegenüber gesundheitsökonomischen oder biomedizinischen Überlegungen in den Hintergrund. Wenn wir uns aber nicht über die Rechtfertigung der dem Gesundheitssystem zugrunde liegenden Werte Gedanken machen, laufen wir Gefahr, irgendwann vor einem ‚wertlosen‘ System zu stehen.“

In diesem Sinne kommt der Autor in seinen Ausführungen auch nicht zu irgendwelchen Sollaussagen, die er auf einer ganz bestimmten Wertgrundlage formulieren würde, sondern skizziert im besten Sinne des Wortes das, was gesellschaftlich unter dem Begriff „Ethik im Gesundheitssystem“ zu bedenken ist.

Die ersten drei Kapitel beschreiben Kontexte der Ethik im Gesundheitssystem:

  • die empirischen Gegebenheiten – Aufbau und Funktionsweise des Gesundheitssystems sowie soziodemografischen und ökonomischen Eckdate
  • die ethischen Kontexte – Begriffsklärungen; inwieweit ist das Gesundheitssystem ein Thema für die Ethik; das Gesundheitssystem im Schnittfeld von Medizin, Ökonomie und Politik; Methoden ethischer Argumentation
  • Mensch und Gesellschaft – Menschenbild; Bedeutung von Gesundheit und Krankheit; der Mensch in der Gesellschaft und seine Rolle im Gesundheitssystem.
Im vierten Kapitel wird beschrieben, was im Sinne einer Verfahrensethik im Bezug auf das Gesundheitssystem zu bedenken ist. Im sich anschließenden fünften Kapitel werden zentrale Begriffe wie Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, Verantwortung und Subsidiarität, Solidarität und Wettbewerb, Effizienz und Rationalisierung diskutiert.

Im Zentrum des sechsten Kapitels stehen Fragen der Datenqualität und des Controllings. Es wird die ethische Relevanz von Wirtschaftlichkeitsmessungen aufgezeigt sowie nach der Bedeutung dessen gefragt, was unter Lebensqualität verstanden und wie diese gemessen werden kann. Ein Abschnitt ist der Bewertung des medizinisch-technischen Fortschritts gewidmet. In einem Abschnitt zum Qualitätsmanagement wird die Frage nach der ethischen Dimension von Qualität aufgeworfen.

Die letzten Kapitel sind dem Finanzierungs-, dem Struktur- und dem Leistungsproblem gewidmet. Hier werden unter anderem Themen wie Gerechtigkeit und auch Rationierung diskutiert.

Der Leser findet in dem Buch eine Fülle von Begriffen und Argumentationen, die in der öffentlichen und politischen Diskussion um die Ausgestaltung des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle spielen. Das Buch sei allgemein empfohlen. Im Besonderen sei es aber denen angeraten, die sich im Bereich der Pflegewissenschaft mit dem Fach Ethik beschäftigen; die Lektüre kann dazu beitragen, bei dem Bemühen um eine eigenständige Pflegeethik den Horizont nicht in unangemessener Weise einzuengen.