Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein<br> Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836-1914 (Rezension)

Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein
Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836-1914 (Silke Köser)

Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2006, 573 S., broschiert, 44,00 Euro, ISBN 3-374-02232-4 und 978-3-374-02232-8 (Historisch-theologische Genderforschung, Band 2)

Rezension von: Dr. Hubert Kolling

Am 30. Mai 1836 hatte der evangelische Theologe Theodor Fliedner (1800-1864) in Kaiserswerth den Rheinisch-Westfälischen Diakonissenverein zur Heranbildung weiblicher Kräfte für die Krankenpflege gegründet und am 13. Oktober 1936 – Anna Sticker (1902-1995) bezeichnete später das Datum als den Beginn der neuzeitlichen Krankenpflege – das Diakonissen-Mutterhaus in Kaiserswerth eröffnet. Bei seinem Ableben 1864 waren inzwischen mehr als 100 Einsatzorte mit 430 Diakonissen besetzt.

Unlängst hat Silke Köser die Schwesternschaft der Kaiserswerther Diakonissenanstalt im 19. Jahrhundert wissenschaftlich untersucht und dabei sowohl nach der Eintritts- und Berufsmotivation der Frauen als auch nach der Ausgestaltung ihres Alltags und seiner Organisationsformen gefragt. Die Autorin (Jahrgang 1972) studierte evangelische Theologie und Germanistik an der Universität-Gesamthochschule Siegen, war von 1998 bis 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und von 2000 bis 2002 Kollegiatin am Max-Weber Kolleg der Universität Erfurt. Seit 2003 arbeitet sie als Theologische Referentin im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). Mit der vorliegenden Arbeit wurde sie am Max-Weber Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt 2002 promoviert.

Ihre Untersuchung, die sich hauptsächlich auf Archivalien der Fliedner-Kulturstiftung (ehemals Fliednerarchiv / Archiv der Kaiserswerther Diakonie) und zeitgenössische Veröffentlichungen stützt, basiert auf der These, dass es Theodor Fliedner „durch die Schaffung von Ordnungen, Leitbildern und Formen kollektiven Handelns gelang, eine spezifische, facettenreiche Diakonissenkultur zu entfalten, die den Frauen die Ausprägung einer kollektiven Identität als Diakonissin ermöglichte“ (S. 20). In Anlehnung an sozialpsychologische Forschungen geht die Autorin dabei nicht von einem „Kollektivsubjekt Kaiserswerther Schwesternschaft“ aus, sondern stellt (1) die Beeinflussung der einzelnen Frauen, welche die Schwesternschaft als solche konstituierten, „solange sie sich eben mit bestimmten Erfahrungen, Erwartungen, Regeln und Orientierungen“ identifizierten, und (2) die Repräsentanz dieser kollektiven Identität im Selbstkonzept der Frauen ins Zentrum ihrer Betrachtung.

Nach einem einleitenden ersten Kapitel mit Hinweisen zu ihrem Forschungsdesign skizziert Silke Köser im zweiten Kapitel zunächst die Geschichte der Diakonissenanstalt in ihrer organisationssoziologischen Dimension, wobei sie einen Schwerpunkt auf den Wandel der Herrschaftsformen im Sinne von Max Weber legt. Diese Vorgehensweise ermöglicht es ihr, relevante Aspekte wie das Wachstum der Schwesternschaft, die Ausdifferenzierung von Funktionsbereichen und die Veränderungen aufgrund von Wechseln in der Leitung wahrzunehmen, konsistent zu beschreiben und damit den Hintergrund für die sich wandelnden Konstruktionsversuche kollektiver Identität freizulegen. Im Einzelnen untersucht sie hierbei nicht nur, wie die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie ihre Beziehungen zum preußischen Staat, der verfassten Kirche und der Inneren Mission gestaltete, sondern stellt auch dar, wie sie mit der Kritik aus den Reihen der zeitgenössischen Frauenbewegung, aus katholischen Kreisen und des Protestantismus sowie mit relevanten gesellschaftlichen Umbrüchen umging.

Im dritten Kapitel betrachtet die Autorin dann eingehend die Hausordnungen, Dienstordnungen und Gestellungsverträge der Diakonissenanstalt in ihrer historischen Entwicklung. Diese bieten sowohl Aufschlüsse darüber, wie sich innerhalb der Schwesternschaft diverse Ämter und Kompetenzen von unterschiedlicher Reichweite entwickelten, als auch Einblicke in die Verteilung von Ressourcen, wie etwa die Regelung der Gehaltsfrage, der Urlaubsfrage und der Krankenversorgung. In einem weiteren Abschnitt zeigt sie anhand einer Art Kaiserswerther Mediengeschichte sowohl die Entwicklung vom Gespräch zwischen Schwester und Vorsteher bis zum gedruckten und versandten „Schwesternbrief“ auf als auch die Notwendigkeit der Schaffung neuer Textsorten, wie beispielsweise Schwesternnachrufe, Märtyrerlegenden oder die Biographien der Gründer. Schließlich stellt sie die Entstehung und Bedeutung verschiedener Formen kollektiven Handelns vor. Mit einer weiten Fassung des Ritualbegriffes werden dabei Einsegnungsfeiern, Jubiläumsfeiern, die Einführung spezifischer Fürbittengebete, Liederbücher und Bibellesetafeln als Handlungen aufgefasst, die primär eine Gruppenzugehörigkeit symbolisieren sowie in ihrer religiösen Ausprägung Ausdruck einer spezifischen Frömmigkeit sind.

Im vierten und letzten Kapitel skizziert Silke Köser schließlich anhand von Ergo-Dokumenten einzelner Schwestern, inwieweit und in welcher Form eine kollektive Identität als Kaiserswerther Diakonissin bei den Schwestern präsent war. Dabei liegt der Fokus ihres Interesses auf bislang wenig untersuchten Quellen, die anlässlich von Ereignissen entstanden sind, welche im Diakonissenleben von besonderer Relevanz waren (wie etwa Texte, die beim Eintritt, aus Anlass der Einsegnung, eines Dienstjubiläums, des Austritts oder des Eintritts in den Feierabend verfasst wurden). Daneben untersucht sie aber auch Dankesbriefe, Arbeitsberichte und autobiographische Texte auf den dort erkennbaren Umgang mit den postulierten Leitbildern und Deutungsmustern.

Wie die Autorin zeigt, begann Theodor Fliedner noch in der Gründungsphase mit der „Legalisierung“ des Diakonissenamtes durch die Schaffung von Hausordnungen und Instruktionen, die das individuelle Handeln der Schwestern in und außerhalb Kaiserswerths bestimmten und den Erfolg der Mutterhausdiakonie garantieren sollten. Das schnelle Wachstum, die enge Bindung an Friedrich Wilhelm IV. und die Orientierung an vorrevolutionären Strukturen hätten nach 1848 zu einem kontinuierlichen Ausbau der Ordnungen, die der Diakonissenanstalt den Charakter einer totalen Institution verliehen, geführt. „Je größer Druck von außen wurde und je schwieriger sich die Leitung der Schwesternschaft aufgrund der hohen Arbeitsbelastung sowie der geographischen Ausbreitung darstellte, desto stärker versuchte die Mutterhausleitung, die kollektive Identität der Frauen als Diakonissen zu formen und auf diese Weise zu verhindern, dass sie ‚Alltagsmenschen’ wurden“ (S. 479). Deshalb sei ihr Kontakt mit den anderen Alltagsmenschen sukzessive eingeschränkt worden. Bezüglich der Ordnungen habe sich diese Haltung in immer spezifischeren Disziplinierungs- und internalisierten Selbstdisziplinierungsmechanismen sowie einer religiös legitimierten „Erziehung zur Demut“ niedergeschlagen. Damit einher sei eine Ausdifferenzierung bestimmter Funktionsbereiche und die Schaffung von Ämtern gegangen, was wiederum zur Binnenhierarchisierung der Schwesternschaft geführt habe.

Parallel zu einer bis zum Tode Theodor Fliedners stärker werdenden Ausdifferenzierung der Ordnungen, welche die Außengrenzen der Diakonissenanstalt scharf konturierte und die Möglichkeit der Teilnahme an anderen Lebenswelten und gesellschaftlichen Bereichen einschränkte, habe eine narrative Legitimierung und Traditionalisierung der Organisationsform Mutterhausdiakonie eingesetzt: „Nachdem die Ordnungen das Profil der Diakonissin gezeichnet hatten, mussten nun ihre Konturen gefüllt werden“ (S. 480). Hierbei sei unter anderem ein spezifisches Kaiserswerther Diakonissenprofil entfaltet worden, das in den Nekrologen und Biographien der Diakonissen und Vorsteherinnen seine offensichtlichste Manifestation gefunden habe. „Demut, Selbstverleugnung, Gehorsam, der ‚richtige Umgang’ mit Arbeitsbelastungen sowie physischem und psychischem Leid und die ‚richtige Art zu sterben’ waren die zentralen Topoi der Texte“ (S. 480).

Im Kontext der Traditionalisierung seiner Herrschaft, so Silke Köser, habe Theodor Fliedner bereits früh eine anstaltsinterne Historiographie eingeleitet, die es ermöglichte, „Zeuginnen und Zeugen“ für das Diakonissenamt und seine Legitimität in der eigenen Geschichte zu finden, die mit der Erinnerung an die „senfkornartigen“ Anfänge das Versprechen einer blühenden Zukunft verband. Damit sei auch die Biographie jeder einzelnen Diakonissin, als Mitglied der Schwesternschaft und Teil der Diakonissenanstalt, in einem heilsgeschichtlichen Kontext interpretierbar geworden. „Mit den vorliegenden Narrationen war den Diakonissen ein quantitativ breites Spektrum gegeben, aus denen sie bei der Suche nach ihrer eigenen Identität schöpfen konnten. Sie stellten ein Material dar, auf das im kreativen und konstruktiven Akt der personalen Identitätsbildung zurückgegriffen werden konnte“ (S. 481). Um den Fortbestand der Anstalt zu sichern, habe Theodor Fliedner die Diakonissenanstalt zu einem Mikrokosmos mit eigenen Regeln, Leitbildern, Symbolen und Riten entwickelt. So sei „eine spezifische Mutterhauskultur Kaiserswerther Prägung“ entstanden, „die von vielen anderen Diakonissenanstalten als Grundlage übernommen wurde und deren Vormachtstellung lange stabil blieb“ (S. 482). Während bei Theodor Fliedner die Ordnungen im Vordergrund gestanden hätten, habe sich sein Nachfolger – Julius Disselhoff (1827-1896) – ganz darauf konzentriert, das Leitbild der Diakonissin weiter auszugestalten, zu theologisieren und zu dogmatisieren. Angesichts der kritischen Anfragen der Frauenbewegung sollten sich die Schwestern auf die Wurzeln ihrer Diakonissenidentität besinnen und sich bei zunehmendem Druck von außen ganz auf die Gemeinschaft und ihre tradierten Wert- und Verhaltensmuster konzentrieren. Aufgrund ihrer Untersuchung besteht für die Autorin kein Zweifel daran, dass die religiös und gesellschaftlich legitimierte geschlechtsspezifische Ausgestaltung des Diakonissenamtes noch heute ihre Wirkung zeigt: „Die Ideale der Demut und Selbstverleugnung werden im Lob des ‚weiblichen Sozialcharakters’ gerade in diakonischen Kontexten weiterhin propagiert und gehen mit einer Problematisierung der Vergütung des Dienstes am Nächsten einher“ (S. 486).

Eine kritische Sicht auf die Phase der Ordnungspolitik biete laut Silke Köser Adelheid Bandau, die in der Retrospektive die restriktiven Kaiserswerther Ordnungen als unbiblisch und willkürliche Disziplinierungsmaßnahmen zum Zwecke des Machterhaltes bewertet habe. Wenngleich die Autorin die beiden zentralen Schriften von Adelheid Bandau „Zwölf Jahre als Diakonissin“ (Berlin, 3. Auflage 1882) und „Erfahrungen einer Diakonissin. Treu nach dem Leben erzählt“ (Leipzig 1915) mehrfach zitiert, lässt sie zwei neuere Betrachtungen aus der pflegehistorischen Biographieforschung, die zu einer Bewertung und zum Verständnis der von ihr vertretenen Positionen wichtig sind, unberücksichtigt:

  • Hubert Kolling: „Der Beruf und die ganze Diakonissensache sind mir auch jetzt noch lieb und werth und werden es stets bleiben.“ Die wechselvolle Lebensgeschichte der Diakonisse Adelheid Louise Bandau. In: www.pflegegeschichte.de/Bandau.html
  • Hubert Kolling: [Artikel] Adelheid Louise Bandau. In: Horst-Peter Wolff (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. „Who was who in nursing history“, Band 2. München, Jena 2001, Seite 10-12.
Insgesamt betrachtet bietet die Studie mit ihrer kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht nur neue Erkenntnisse über Anspruch und Wirklichkeit des Diakonissenberufes im 19. Jahrhundert, sondern auch einen vertieften Einblick in den Alltag der Schwesternschaft zwischen 1836 bis 1914. Die pflegehistorisch bedeutende Untersuchung belegt, dass die Entwicklung einer eigenen Kultur und die Ausprägung einer kollektiven Identität maßgeblich zum raschen Wachstum der Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert beigetragen hat.