Aggressives Verhalten in Altenpflegeheimen Seidl, Norbert )Mabuse-Verlag, Frankfurt, 2010, 225 S., 24,90 €, ISBN 978-3-940529-83-1 Rezension von:Paul-Werner Schreiner |
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Das vorliegende Buch erscheint als Band 19 der Bonner Schriftenreihe „Gewalt im Alter“. Ausgangspunkt der Schriftenreihe waren sicherlich die publik gewordenen Gewaltakte an pflegebedürftigen Menschen und hier wiederum solchen, die in Institutionen leben (müssen). Allmählich wurden auch die noch weit mehr im Dunkel liegenden Gewaltaktionen in der häuslichen Pflege thematisiert – und, dass Gewaltakte sehr wohl auch von zu Pflegenden ausgehen kann. In der vorliegenden Studie geht es primär um aggressives Verhalten von in Einrichtungen der Altenhilfe lebenden Menschen.
Der Autor stellt zunächst einmal zutreffend fest, dass von dem zahlenmäßig zunehmenden Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung ein zunehmender Teil in Institutionen der Altenhilfe lebt und versorgt werden muss. Er stellt weiter richtig fest, dass als Folge der sozialpolitischen Devise „ambulant vor stationär“ das klassische Altenheim nahezu verschwunden ist und es fast nur noch Altenpflegeheime gibt – wobei hier anzumerken ist, dass es für Menschen, die es sich leisten können, seit einiger Zeit mit den Seniorenresidenzen sehr wohl wieder so etwas wie das Altenheim gibt. Als weitere Folge ergibt sich, dass „Pflegebedürftige in einem immer höher werden Alter in ein Heim“ eintreten, „was (wiederum) die Verweildauer in den Altenpflegeheimen zunehmend verkürzt“. Bedenkt man weiter, dass nicht nur die Hochaltrigkeit zur Heimunterbringung führt, sondern –hier nicht weiter untersucht – die Schwierigkeiten, den Betroffenen im häuslichen Setting zu versorgen, wozu psychische Veränderungen und die Entwicklung einer Demenz nennenswert beitragen dürften, ergibt sich, dass „Heime immer mehr zu Orten der Problemkumulation“ werden.
Ziel der Arbeit – so der Autor – „ist es, die Verteilung, Formen und Stabilität von aggressiven Verhaltensformen bei kognitiv beeinträchtigten Bewohnern in deutschen Altenpflegeheimen zu untersuchen und Faktoren zu identifizieren, die für die Entstehung dieser Verhaltensweisen bedeutsam sind“.
Im ersten Kapitel werden der demografische Wandel, der Wandel des Krankheitsspektrums und – mit beiden verbunden – die Zunahme der Pflegebedürftigkeit sowie die Konsequenzen für die Versorgung der betroffenen Menschen und damit die gesellschaftliche Relevanz der Fragestellung aufgezeigt. Im zweiten Kapitel wird dargestellt, in welcher Weise aggressives Verhalten Gegenstand der Forschung ist. Daran anschließend werden im vierten Kapitel Erklärungsversuche für aggressives Verhalten referiert.
Im fünften Kapitel wird die Untersuchung vorgestellt, woran sich im sechsten Kapitel die Präsentation der Ergebnisse anschließt. Im siebten Kapitel werden schließlich die Ergebnisse diskutiert und sich daraus ergebende Folgerungen skizziert.
Die meisten Ergebnisse sind nicht überraschend – z. B., dass aggressives Verhalten von Bewohnern mit dem Maß der körperlichen Versorgung (Eindringen in die Intimsphäre) korreliert oder mit der Unfähigkeit, sich zu artikulieren –, andere Ergebnisse überraschen – so z. B., dass die Erfahrung überlasteter Pflegender keine nennenswerte Auswirkung auf das Entstehen aggressiven –Verhaltens zu haben scheint. Insgesamt kann aufgezeigt werden, dass das Entstehen aggressiven Verhaltens nur selten einer einzigen Ursache zugeordnet werden kann, dass es vielmehr multifaktoriell bedingt ist, was sowohl die Vorhersage solchen Verhaltens erschwert als auch das Aufzeigen klarer und eindeutiger Konsequenzen. Gleichwohl: Die Studie und damit das Buch ist lesenswert und sollte von den Verantwortlichen in Einrichtungen der Altenhilfe zur Kenntnis genommen werden
Einige Anmerkungen seien erlaubt:
• Etwas überraschend ist, dass in der Untersuchung nicht weiter danach gefragt wird, inwieweit aggressives Verhalten von Pflegebedürftigen auch Reaktion auf aggressives Verhalten von Pflegenden ist, wobei dieses natürlich nicht unbedingt verbal erfolgt, sondern vielfach nonverbal. Sehr einleuchtend ist, dass zu Pflegende aggressiv reagieren, wenn in ihre Intimsphäre eingedrungen wird, was im Zusammenhang mit der pflegerischen Versorgung bei Inkontinenz regelmäßig und auch zwingend erfolgt. Was, so könnte man fragen, ist, wenn ein Pflegebedürftiger in einer Nacht zum dritten und vierten Mal eingestuhlt ist und sich vielleicht die Inkontinenzversorgung ausgezogen hat. Ist sein aggressives Verhalten nicht vielleicht auch eine Resonanz auf genervtes, latent aggressives Verhalten der Pflegenden? Hier wäre genauer nachzufragen.
• Unverständlich ist, dass das Thema „Nahrungsaufnahme“ nur eher beiläufig an einigen Stellen Erwähnung findet. Die Nahrungsaufnahme nimmt als Strukturelement im Tagesablauf der Alteneinrichtungen einen großen Stellenwert ein. Zudem ist die Nahrungsverweigerung gerade bei Menschen mit Demenz ein dauerhaft aktuelles Thema. Durch die gesellschaftliche Weigerung, zu akzeptieren, dass ein alter Mensch nicht mehr will, dass es im Gegenteil notwendig ist, dass ein alter Mensch am Ende seines Lebens den Ernährungsstatus eines Zwanzigjährigen hat – es sei nur an die idiotische Überprüfung des BMI durch den Medizinischen Dienst und die Heimaufsicht erinnert – wird ein unendlicher Druck auf die Pflegenden ausgeübt, der bei anhaltender Nahrungsverweigerung der Pflegebedürftigen zu häufig nicht mehr nur latent aggressiven Verhaltensmaßnahmen der Pflegenden führt. Hier wäre nachzufragen, inwieweit aggressives Verhalten der Pflegebedürftigen nicht auch Antwort auf die vermutlich vielfach als Vergewaltigung empfundene Zwangsernährung ist.
• Mit der Problematik der Gabe von Psychopharmaka beschäftigt sich der Autor ausführlich. Es wird festgestellt, dass – entgegen einer naheliegenden Annahme – das Verabreichen von Psychopharmaka nicht zu einer Abnahme aggressiven Verhaltens führt. Leider wird hier nicht weiter nachgefragt. Zum einen müsste die Interaktion mit anderen Medikamenten betrachtet werden – es wird sachgerecht ermittelt, dass Bewohner bis zu 8 verschiedene Medikamente nehmen, wobei dies bei weitem kein Extrem darstellt. Es wäre weiter n zu fragen, ob nicht auch andere Medikamente Verhaltensveränderungen bedingen oder begünstigen können. Es wäre ferner danach zu fragen, über welche Qualifikation der Psychopharmaka verordnende Arzt verfügt – ist es der Hausarzt, der diesbezüglich nicht qualifiziert ist, oder ein Gerontopsychiater. Hier bleibt die Betrachtung auf halber Strecke stehen.
• In den abschließenden Überlegungen darüber, welche Folgerungen aus den Ergebnissen zu ziehen sind, wird auf die Notwendigkeit empathischen Verhaltens durch die Pflegenden eingegangen und, dass entsprechend geschult werden muss. Dies ist sicher unstrittig. Ebenso unstrittig ist, dass hinsichtlich des Erkennens vor allem chronischer Schmerzen bei Menschen mit Demenz bei dem in Altenpflegeheimen Tätigen ein Schulungsbedarf besteht. Diese Erwägungen setzen aber klammheimlich eine in sich adäquate Personalstruktur in den Altenpflegeheimen voraus. Nur an einigen wenigen Stellen der Untersuchung wird die Verschlechterung der Personalsituation erwähnt. Hier wäre aber genauer nachzufragen. Welche Bedeutung kommt der personellen Kontinuität in der Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu? Ist aggressives Verhalten vielleicht auch dadurch bedingt, dass der Pflegebedürftige nicht nur jede Schicht, sondern jeden Tag von einer anderen Pflegeperson versorgt wird, weil in der Einrichtung aus Kostengründen die festangestellten Pflegekräfte mit Dokumentations- und Organisationsaufgaben betraut sind und die Pflege von 400-€-Kräften ausgeführt wird, die zudem häufig über eine fragliche Qualifikation verfügen. Welche Rolle spielt die Tatsache, dass es in Heimeinrichtungen mitunter aus eben diesen Gründen kaum jemand gibt, der der deutschen Sprache mächtig ist? Wenn über aggressives Verhalten in Altenpflegeheimen nachgedacht wird, kann aus Sicht des Rezensenten die politisch gewollte Personalsituation in diesen Einrichtungen nicht unbeachtet bleiben.