<p><span style="font-size: medium;"><span style="font-family: Arial;">Gewalt und Demenz</span></span><br /> <span style="font-size: small;"><span style="font-family: Arial;">Ursachen und Lösungsansätze für ein Tabuthema in der Pflege</span></span></p> (R

Gewalt und Demenz
Ursachen und Lösungsansätze für ein Tabuthema in der Pflege

(

Weissenberger-Leduc, Monique und Anja Weiberg

)

Springer-Verlag, Wien, 2011, VIII und 201 S., 29,13 , ISBN 978-3-7091-0061-5

Rezension von:

Paul-Werner Schreiner


Gewalt in Pflegebeziehungen ist mit Sicherheit nicht ein Thema, über das selbstverständlich gesprochen würde. Gleichwohl mag offen bleiben, ob es sich wirklich noch um ein Tabu-Thema handelt - in den letzten 15 Jahren sind allein in pflegerischen Publikationsbereich über 50 Bücher und etwa 400 Zeitschriftenartikel zu dem Thema erschienen.

Das Besondere an der hier vorzustellenden Publikation ist, dass nicht allgemein die Gewalt an versorgungsbedürftigen alten Menschen betrachtet wird, sondern danach gefragt wird, weshalb und inwiefern Menschen, die an einer Form der Demenz erkrankt sind, im besonderen Maße gefährdet sind. Dass die beiden Autorinnen – eine Pflegewissenschaftlerin und eine Ethikerin – aus Österreich stammen und daher einige Darstellungen auf die Situation in Österreich abheben, ist unschädlich – die angesprochenen Probleme sind überall gegeben.

In den ersten Kapiteln werden die medizinischen Aspekte des Krankheitsbildes Demenz sowie die Epidemiologie der Gewalt referiert. In einem weiteren Kapitel werden Definitionen des Gewaltbegriffs dargestellt und Formen von Gewalt beschrieben. Die Autorinnen orientieren sich im weiteren Verlauf der Ausführungen an der Definition von Rolf Hirsch und Bodo Vollhardt, die sich wiederum an der weithin anerkannten Definition des Friedensforscher Johan Galtung anlehnen und personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt unterscheiden.

Ausführlich wird nun auf die personelle Gewalt eingegangen, die in Misshandlung (körperliche und seelische Misshandlung, finanzielle Ausbeutung sowie Einschränkung desfreien Willens) und Vernachlässigung (passive und aktive) eingeteilt wird. Anschaulich wird das Gemeinte an Interaktionssequenzen verdeutlicht.

Wesentlicher Unterschied zwischen der personellen und der strukturellen Gewalt ist, dass bei der strukturellen Gewalt der Verursacher nicht so ohne weiteres auszumachen ist. Der strukturellen Gewalt ist ein deutlich kürzeres Kapitel gewidmet. Beispiele für strukturelle Gewalt in der Institution werden aufgezeigt.

Wiederum ausführlich gehen die Autorinnen auf Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in Institutionen ein, wobei die geriatrische Gesundheitsförderung der zentrale Begriff ist. Es werden Konsequenzen für die Menschen mit Demenz, für die Pflegenden sowie für die Organisation aufgezeigt. Als Konsequenzen einer effizienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das pflegende Personal werden eine Änderung des Pflegeverständnisses – Stichwort: Ressourcenorientierung – sowie eine Änderung des Arbeitsverständnisses gefordert. Von der Organisation wird u.a. gefordert, dafür Sorge zu tragen, dass es den Pflegenden gut geht – denn nur wenn dies der Fall sei, könnten diese auch gut pflegen. Ein Einrichtung – Beispiel für Good Practice – wird beschrieben, wobei der Rezensent gesteht, dass er nach dieser Darstellung in der beschriebenen Einrichtung gerne Mäuschen spielen würde.

Das letzte Kapitel ist der kulturellen Gewalt gewidmet, bei der der Verursacher der Gewalt noch weniger zu fassen ist als bei der strukturellen Gewalt. Die Autorinnen gehen hier gehen hier im Wesentlichen auf negative Stereotype und Vorurteile bezüglich des Alters ein, die im Hinblick auf Menschen mit Demenz eine Verstärkung erfahren.

Das Buch ist lesenswert und sicher auch für Ausbildungszwecke geeignet. Es wird sich wohl kaum jemand der Darstellung in dem Buch entziehen können – Betroffenheit stellt sich ein, vor allem, wenn man die Interaktionssequenzen im Kapitel zur personellen Gewalt gelesen hat; es wird unmittelbar deutlich, was in den dargestellte Situationen schief läuft. Gleichwohl blieb bei dem Rezensenten, der einige Jahre in einer Pflegeeinrichtung gearbeitet hat, auch ein komisches Gefühl zurück. Einige Erwägungen, worauf dieses beruht, seien hier erlaubt:
•    Ist die Anordnung der verschiedenen Aspekte der Gewalt sinnvoll oder gar zwingend? Wird nicht dadurch, dass die personelle Gewalt, d.h. die Gewalt von Pflegenden an Menschen mit Demenz an den Anfang gestellt wird, der Eindruck erweckt, dass Gewalt an Pflegebedürftigen, vor allem solchen mit Demenz, in erster Linie ein Problem der Pflegenden ist? Dies ist insofern nachvollziehbar, als hier natürlich jemand zu identifizieren ist, der Gewalt ausübt. Entsprechend folgerichtig ist es auch, dass die Pflegenden ihr Pflegeverständnis und ihr Arbeitsverständnis ändern müssen. So sehr dies richtig ist, so sehr erfordert diese Sichtweise jedoch auch Widerspruch.
•    Die Autorinnen führen aus, was sich auf der institutionellen Ebene ändern muss. Hier ist man als Leser an manchen Stellen an Blochs Theorie der historisch nicht vermittelten Utopie erinnert. Die Forderung nach ausreichend Personal kann nur unterschrieben werden. Wie sehr die Autorinnen aber an der Oberfläche bleiben, wird daran deutlich, dass sie hier nur den quantitativen Aspekt konkretisieren (Personalschlüssel von 0,70 nötig). Keine Erwähnung findet, dass in diesen Einrichtungen die ausgebildeten Mitarbeiter vielfach mit administrativen Tätigkeiten beschäftigt sind und die konkrete pflegerische Arbeit zu einem wesentlichen Teil von wenig oder nicht qualifizierten Mitarbeitern ausgeführt wird, an denen vielfach Mitarbeiterentwicklung wie kaltes Wasser abperlt. Dazu kommt, dass die Bezahlung der Arbeit in Pflegeeinrichtungen deutlich schlechter bezahlt ist als die in Krankenhäusern. Ferner arbeiten in diesen Einrichtungen vielfach Frauen, die häufig der Doppelbelastung von Familie und Arbeit ausgesetzt sind, was ebenfalls Qualifikationsmaßnahmen Grenzen setzt. Viele der durchaus richtigen Vorschläge der Autorinnen setzt personelle Kontinuität voraus, was bei einem hohen Prozentsatz von Teilzeitbeschäftigung bis zu Aushilfen auf Minijobbasis illusorisch ist. Der Rezensent lässt sich gerne belehren, dass die Situation in Österreich wesentlich anders ist als die in Deutschland – an die Ereignisse in Wien-Lainz denkend, scheint dies jedoch nicht sehr wahrscheinlich.
•    Dies legt die Überlegung nahe, dass man die Ausführungen vielleicht mit den Aspekten der kulturellen Gewalt hätte beginnen sollen. Zur kulturellen Gewalt gehört nicht nur das negative Altersbild, was selbstverständlich bei den Menschen mit Demenz eine Zuspitzung findet. Hierher gehört auch die kritische Betrachtung von Leistungsfähigkeit, von Schnelligkeit, von Mobilität usw., die gesellschaftlich einen hohen Stellenwert haben. Und es ist zu fragen, was die Annahme berechtigt, dass die Pflegenden eine andere Sozialisation erfahren haben als der Rest der Bevölkerung – auch für die Pflegenden sind die Werte wichtig, die jetzt bei ihrer Arbeit als nicht bedeutsam angesehen werden sollen. Dies gilt vor allem für Einrichtungen, in denen Menschen mit Demenz in großer Zahl zusammengeführt werden, was wiederum Folge der gesellschaftlich gewollten, primär fiskalisch motivierten Devise „ambulant vor stationär“ ist, wodurch nur die Menschen in den Einrichtungen leben, die nirgends mehr anders versorgt werden können. Die gesellschaftliche Erwartung an die Pflegenden in den Einrichtungen der Altenhilfe stellt eine Form von Gewalt dar – Gewalt zunächst an den Pflegenden, die diese dann weitergeben an die zu Pflegenden. Das von Klaus Dörner in die Diskussion eingebrachte Verdünnungsprinzip findet bei den Lösungsansätzen keine Erwähnung. Es geht nicht darum, schlimme Zustände in Pflegeeinrichtungen zu entschuldigen – es geht darum, nach den Ursachen zu fragen.
•    Hinsichtlich der Gewalt an Menschen mit Demenz sei an Horst Eberhard Richter erinnert, der im Zusammenhang mit den Patiententötungen durch Pflegende – der extremsten Form von Gewalt – vorsichtig angemerkt hat, dass die kriminelle Aktion des Täters in Wahrheit Ausdruck der kriminellen Energie einer ausgrenzenden Gesellschaft ist. Und es ist ferner an Thure von Uexküll zu erinnern, der festgestellt, dass eine Gesellschaft, die Sterben und Tod – und man wird hier das Alter anfügen dürfen – ausgrenzt, diejenigen gleich mit ausgrenzt, die sich um eben diese Menschen kümmern. Es gibt kaum eine Erwägung, die Situation der Pflegenden besser beschreibt. Auch dies ist ein Form kultureller Gewalt an Pflegenden.

Zum Schluss noch ein Aspekt, den der Rezensent schmerzlich vermisst hat: Die Interaktionssequenzen – so sie denn so stattgefunden haben, was durchaus sein kann – drehen sich zu einem nicht geringen Teil um die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Unstrittig kommt es genau in diesem Kontext zu den vermutlich meisten Gewaltaktionen, die auch oftmals nicht als solche wahrgenommen werden. So sehr die vorgestellten Interaktionen zu kritisieren sind, so sehr sollte sich derjenige, der nicht Tag für den Tag den nicht zu gewinnenden Kampf um die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr in Einrichtungen mit vielen an Demenz erkrankten Menschen ausgehalten hat, mit der Kritik nicht allzu weit aus dem Fenster hängen. Die Forderung, dass ein alter Mensch immer ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt ist, wird in keiner Weise kritisch beleuchtet. Ein Recht des alten Menschen, nicht mehr zu wollen, was die Verweigerung von Nahrung und Flüssigkeit einschließt, gibt es nicht – und einem Menschen mit Demenz wird ein solches Recht schon gar nicht zugestanden. Die PEG-Sonde, deren Anlage sehr wohl zu kritisieren ist, wird gleichzeitig dämonisiert. Den Pflegenden in den Einrichtungen wird hier in brutaler Weise der schwarze Peter zugeschoben, nicht nur mittelbar von Aufsichtsbehörden mit ihrem hirnkosen Beharren auf dem BMI, sondern auch unmittelbar von Angehörigen, die sich schuldig fühlen, weil sie den Vater/die Mutter ins Heim gebracht haben, und ihre Schuld nun mit der Kontrolle der Einfuhrzettel abreagieren. Dass ein sich Zurücknehmen aus dem Leben, wozu auch gehört, immer weniger zu essen und zu trinken, ein normales Geschehen ist, ist dem Menschen in den modernen Gesellschaft abhandengekommen.

So sehr alle Bemühungen, Gewalt in pflegerischen Beziehungen zu verhindern, zu unterstützen sind, so sehr muss betont werden, dass angesichts des Wertekodexes dieser Gesellschaft die Erwartung, dass eine kleine Gruppe von Menschen, die Mitglieder dieser Gesellschaft sind, etwas leisten sollen, was es in dieser Gesellschaft eigentlich gar nicht geben sollte, eine Illusion bleiben muss. Insofern kratzen die Ausführungen in dem Buch leider nur die Oberfläche des Problems.