Co-Abhängigkeit (Rezension)

Co-Abhängigkeit (Flassbeck, Jens)

Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2010, 271 S., 26,95 €,

Rezension von: Dr. Hubert Kolling

Nicht nur Suchtkranke, sondern auch deren Angehörigen sind höchst gefährdet, gehören doch Angst, Scham, Verdruss, immer wieder zerstörte Hoffnung und Enttäuschung, Ohnmacht und Verzweiflung zu ihrem täglichen Brot. Ihre Erschöpfung und ihr Leiden werden bisher jedoch, obwohl das Phänomen der Co-Abhängigkeit seit Langem bekannt ist, weder von Therapeuten noch von der Gesellschaft entsprechend ihrer Bedeutung wahrgenommen. Anders verhält es sich mit dem Buch "Co-Abhängigkeit", in deren Mittelpunkt diese behandlungsbedürftige Gruppe steht. Diplom-Psychologe und Gesprächspsychotherapeut Jens Flassbeck, Gesamtleiter der Fachklinik Extertal (Rehabilitationsklinik für Drogenabhängige) bei Lemgo (Lippe), beschreibt darin die typischen Abläufe einer co-abhängigen Verstrickung, die Symptome, Auffälligkeiten und spezifischen Erkrankungen.

Mit der Veröffentlichung verfolgt der Autor, wie er einleitend schreibt (S. 22-23), die folgende sechs Absichten und Ziele:

  • Das Schweigen, das Vergessen und die Missachtung werden durchbrochen, und es wird für das co-abhängige Leiden sensibilisiert.
  • Er erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Missachtung und Verleugnung des co-abhängigen Leidens und den Defiziten der Suchthilfe, -prävention, -forschung und -politik. Es werden konkrete und vielfältige Anstöße und Anregungen gegeben, wie das Thema und die Betroffenen angemessene Berücksichtigung finden können und sollten.
  • Co-Abhängigkeit als persönliche und institutionelle Problematik und Störung wird umfassend konzeptualisiert, und es werden eindeutige diagnostische Leitlinien entwickelt, um das Ausmaß beziehungsweise den Störungsgrad der co-abhängigen Verstrickung einer Person sowie einer Institution konkret beurteilen zu können.
  • Es werden die vielschichtigen persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, Ursachen und Faktoren der co-abhängigen Problematik und Störung diskutiert und die Dynamik der Co-Abhängigkeit erläutert.
  • Möglichkeiten der Beratung und Behandlung von Angehörigen werden aufgezeigt und diskutiert, und es wird ein ausführlicher, personenzentriert psychotherapeutischer Behandlungsansatz der Co-Abhängigkeit vorgestellt. Schließlich werden institutionelle Strategien und Maßnahmen, co-abhängigen Verstrickungen vorzubeugen und zu überwinden, skizziert.
  • Alle Inhalte werden durch zahlreiche und lebendige Praxis- und Fallbeispiele illustriert und verdeutlicht.
  • Wörtlich schreibt er weiter: "Mein Anliegen ist es, Sprachrohr für die Belange der sprachlosen und still leidenden Zielgruppe der Angehörigen von Suchtkranken zu sein. Als humanistischer Psychologe bin ich überzeugt davon, dass therapeutisches Fachwissen und -sprache nur so weit tauglich und sinnvoll sind, wie es von der Klientel verstanden und angenommen wird, zumal ich festgestellt habe, dass extreme Phänomene wie Co-Abhängigkeit und Sucht vielmals nicht durch Fachsprache in ihrer dramatischen Tragweite zu erfassen sind. Fachliche Sachlichkeit und Objektivität können eine besonders verkappte Form der (co-abhängigen) Bagatellisierung und Schönrederei sein. Manchmal muss man die Sache einfach beim Namen nennen" (S. 24).

    Das Buch gliedert sich in die folgenden acht Kapitel, die ihrerseits jeweils mehrere Unterpunkte haben:

  • Was ist Co-Abhängigkeit?
  • Institutionelle Co-Abhängigkeit
  • Daten und Fakten
  • Störungsbedingungen und Ressourcen
  • Institutionelle und gesellschaftliche Aspekte
  • Wo finden Angehörige Beratung und Therapie?
  • Leitthemen und Leitlinien der Behandlung
  • Institutionelle Strategien und Maßnahmen.
  • Als Fachbuch konzipiert ist der Inhalt klassisch dreigeteilt: 1. Beschreibung und Definition des Phänomens, 2. Theorie und Genese sowie 3. Beratung und Behandlung. Zunächst beschreibt Jens Flassbeck nüchtern und deskriptiv das Phänomen beziehungsweise die Diagnose der persönlichen Co-Abhängigkeit (Kapitel 1) und der institutionellen Co-Abhängigkeit (Kapitel 2). Im folgenden Theorieteil werden Daten, Fakten, Bedingungen, Annahmen und Standpunkte zur Entwicklung und Dynamik des Phänomens erläutert und diskutiert (Kapitel 3 bis 5). Und im Behandlungsteil werden schließlich Möglichkeiten der Beratung und Behandlung dargestellt (Kapitel 6), ein umfassender psychotherapeutischer Behandlungsansatz vorgestellt (Kapitel 7) und konkrete institutionelle Maßnahmen erläutert (Kapitel 8).

    In seiner Darstellung weist der Autor unmissverständlich darauf hin, dass Angehörige nicht bloß ein Anhängsel der Süchtigen sind, sondern eine eigene beratungs- und behandlungsbedürftige Problematik haben. Die Suchthilfe missachte und vernachlässige bisher jedoch die Angehörigen. Suchthelfer seien konkret verantwortlich dafür, in ihrer Einrichtung auch angemessene und ausreichende Hilfeangebote und präventive Maßnahmen für die Angehörigen zu entwickeln und vorzuhalten. Niedergelassenen Ärzten, Psychotherapeuten und Pädagogen in der Jugend- und Familienhilfe empfiehlt er: "Unterstützen Sie gezielt die Angehörigen und Kinder, ihr Leiden und ihre Not zu erkennen und auszudrücken, den Frosch im übertragenen Sinn an die Wand zu werfen und das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen" (S. 266).

    An die Wissenschaft beziehungsweise Suchtforschung gewandt fordert Jens Flassbeck, wesentlich stärker als bisher auch die Angehörigen in den Blick zu nehmen. Diese hätten eine eigene vielschichtige individuelle, soziale und gesellschaftliche Problematik, die adäquat erforscht werden sollte. Politiker und Verbandsfunktionäre sollten hingegen ihre Möglichkeiten nutzen, die gesellschaftliche Missachtung der "Angehörigensache" zu durchbrechen und geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass den Angehörigen die Hilfe zukommt, die sie benötigen. Angehörige von Suchtkranken legt der Autor schließlich nahe, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, zur gegenseitigen Unterstützung Kontakte zu anderen Betroffenen und Gleichgesinnten zu suchen und sich in der Selbsthilfe zu organisieren.

    "Co-Abhängigkeit" erscheint in der Reihe "Leben lernen", die auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vorstellt. Empfohlen sei das Buch daher zunächst Fachleuten aus den helfenden Berufen, die in einschlägigen Einrichtungen arbeiten. Lesenswert ist es aber auch für psychologisch Interessierte und alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden. Da das Thema durchaus auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Pflegesektor von Relevanz sein kann, sollte es in den Bibliotheken entsprechender Ausbildungseinrichtungen zugänglich sein.