Prävention von Aggression und Gewalt in der Pflege (Schirmer, Uwe et al.)Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover, 2012, 3., akt. Aufl., 101S. 24,95 €, ISBN 978-3-89993-298-0Rezension von: Paul-Werner Schreiner |
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Gewalt im Kontext pflegerischer Beziehung ist inzwischen seit Jahren kein Tabuthema mehr - zum Glück. Nun ist das Thema sehr vielschichtig. Zur Einordnung der vorliegenden Publikation ist die Beachtung des Untertitels unabdingbar - die Behandlung des Themas zielt auf die besonderen Bedingungen in psychiatrischen Pflegeeinheiten ab. Im Fokus der Abhandlung steht, wie die Mitarbeiter der von Patienten ausgehenden Aggression und Gewalt begegnen bzw. ihr vorbeugen können.
Die Autoren sind Mitarbeiter in psychiatrischen Einrichtungen mit unterschiedlichen Grundqualifikationen - meist Pflegende -, aber durchweg mit der Zusatzqualifikation als Deeskalationstrainer.
In einem ersten Kapitel werden die zentralen Begriffe Aggression und Gewalt erläutert und voneinander unterschieden. Es werden ferner Auslöser für Gewaltaktionen und Risikofaktoren aufgezeigt. In dem sich anschließenden Kapitel wird ausgelotet, wer in den Institutionen auf welcher Hierarchieebene welche Verantwortung hinsichtlich der Verhütung von Gewalt bzw. der Aufarbeitung von Gewaltaktionen zu tragen hat - angefangen von der Geschäftsführung über die Pflegedienstleitung bis hin zu der einzelnen Pflegenden. Dieses Kapitel ist gegenüber der ersten Auflage neu.
Im Weiteren wird dargelegt, was hinsichtlich der Aggressions-und Gewaltprävention getan werden kann und sollte. Dabei gehen die Autoren geben dabei sehr praxisnahe Anregungen - es wird. z. B. die angemessene Kleidung und die mitunter heiklen Thema "Haartracht" und "Schmuck" angesprochen. Zentral ist, dass frühzeitig agiert werden sollte und die Betroffenen aktiv bleiben sollen. Wichtig ist schließlich, dass Aggression und Gewalt dokumentiert sowie darüber gesprochen werden. Und es wird betont, dass die Opfer Hilfe brauchen.
Im vorletzten Kapitel werden nach der Darstellung der Deeskalationsphasen die Begriffe "Notwehr" und "Rechtfertigender Notstand" erläutert und über Zwangsmaßnahmen, die immer Eingriffe in Grundrechte sind, informiert.
Auch wenn der Fokus der Ausführungen auf der von Patienten ausgehenden Aggression und Gewalt und, wie dieser professionell begegnet werden kann, liegt, bleiben einige Aspekte doch sehr unterbelichtet oder fehlen ganz. Schon in der Besprechung der ersten Auflage wurde kritisiert, dass die Betrachtung von Aggression und Gewalt zu kurz greift. Gewalt ist nur selten ein Geschehen für sich, sondern meist Ergebnis einer Interaktion. Wenn aggressivem und gewalttätigem Verhalten von Patienten angemessen begegnet werden soll, sollte reflektiert werden, inwieweit aggressives und gewaltsames Verhalten von Patienten auch Antwort auf bestimmtes Verhalten von Pflegenden oder anderen Mitarbeitern in den Einrichtungen ist oder auch Reaktion auf bestimmte Strukturen. Es fehlt in dem Buch eine gründliche Reflexion über die Frage, welches pflegerische Handeln als aggressionsfördernd bzw. wann das Verhalten Pflegender in sich - Sprache, Gestik usw. - als gewaltsam angesehen werden kann oder muss. Ein weiterer Aspekt ist, dass der Biografiearbeit nicht die gebührende Bedeutung geschenkt wird. Pflegende müssen wissen, ob Patienten auf vielleicht ganz harmlose Situationen aggressiv reagieren, weil diese in ihrer Biografie negativ besetzt wurden - dieser Aspekt spielt vor allem in der Gerontopsychiatrie und bei Menschen mit Demenz eine sehr große Rolle. Schließlich wäre noch ein ganz anderer Aspekt zu bedenken: nämlich, inwieweit pflegerisches Handeln an sich schon eine Form von Gewalt darstellt. Dies spielt in der Gerontopsychiatrie eine nicht unwesentliche Rolle, wo bei den Kranken nicht selten die Körperpflege übernommen und Hilfestellung bei den Ausscheidungen geleistet werden muss. Hier kommt es notwendig zu nicht vermeidbaren Grenzüberschreitungen. Der wichtige und lesenswerte Aufsatz von Irmgard Hofmann (Konstitutive Grenzüberschreitung im Pflegealltag. Eine Reflexion über den Zusammenhang zwischen unvermeidbarer Grenzüberschreitung einerseits und Autonomieverletzung bis zur Gewalt andererseits. Intensiv, 9, [2001] 6, S.25) fehlt leider im Literaturverzeichnis. Nicht zuletzt wäre das trübe Thema der Nahrungsaufnahme zu erwähnen, das zumindest in der Gerontopsychiatrie hinsichtlich des Themas "Gewalt" eine große Rolle spielt.
Eine weitere Kritik in der Besprechung der ersten Auflage wurde aufgenommen: Das Literaturverzeichnis ist formal vereinheitlicht.
Die Ausführungen sind so angelegt, dass sie sehr wohl zum Selbststudium genutzt werden können. Der Leser wird immer wieder aufgefordert, aufzuschreiben oder anzukreuzen, wie er selbst in bestimmten Situationen reagieren würde, wie er etwas erlebt usw. Das Buch kann ebenso zur Vorbereitung für entsprechenden Unterricht oder Fortbildungsveranstaltungen herangezogen werden. Um das Buch aber für diesen Zweck uneingeschränkt empfehlen zu können, müsste das Literaturverzeichnis inhaltlich dem Thema angemessen umfangreicher sein.
Der Preis für das nicht gerade umfangreiche Buch ist nach wie vor recht
stolz.