Krankenhausgeschichte heute. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Hospital- und Krankenhausgeschichte?(Hrsg.: Gunnar Stollberg, Christina Vanja, Ernst Kraas)
(Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte, Band 27). LIT-Verlag. Münster 2011, 340 Seiten, broschiert, 34,90 Euro, ISSN 0440-9043, ISBN 978-3-643-111287-3
Rezension von: Dr. Hubert Kolling
Der Medizin- und Kunsthistoriker Prof. Dr. med. Dr. phil. Robert Herrlinger (1914-1968) war einer der ersten, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland mit der Geschichte des Hospital- und Krankenhauswesens in Lehre und Forschung beschäftigte und dazu grundlegende wissenschaftliche Beiträge veröffentlichte. Als vielseitig engagierter Hochschullehrer in Kiel und Würzburg rief er 1964 nach Vorbildern in Italien und Frankreich mit der „Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte“ einen Fachverband ins Leben, der sich umfassend der Historie des Hospital- und Krankenhauswesens widmen sollte. In der von ihm entworfenen Satzung heißt es zu den Aufgaben der Gesellschaft: „Der Verein bezweckt die Erforschung und Darstellung der Geschichte des Krankenhauswesens in Deutschland im allgemeinen wie auch die seiner Teilgebiete (Krankenhausmedizin, Krankenhausarztwesen, Krankenhauspflege, Krankenhausseelsorge, Fürsorgewesen im Krankenhaus, Krankenhausbau, Krankenhausverwaltung usw.) zu pflegen, zu vertiefen und zu fördern.“
Neben der Förderung von wissenschaftlichen Arbeiten, Ausstellungen und Tagungen zur Geschichte des Krankenhauswesens unterstützt die Gesellschaft Museen mit hospitalgeschichtlichen Abteilungen. Außerdem fördert sie Bestrebungen, historisch bedeutsame Hospital- und Krankenhausgebäude als medizinische, kulturelle und soziale Denkmäler zu erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gleichzeitig ist der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte ein besonderes Anliegen, auf verschiedenen Ebenen der Historie des Hospital- und Krankenhauswesens tätig zu sein und dabei – neben den medizin- und krankenpflegegeschichtlichen Aspekten – die breite kultur-, bau- und sozialhistorische Bedeutung des Krankenhauses bekannt zu machen. Zukünftig möchte die Vereinigung verstärkt die Entwicklung der konfessionellen, der evangelischen, katholischen und jüdischen Krankenhäuser mit ihrer Geschichte, die Historie der Krankenpflege sowie der klinischen Medizin und ihrer Patienten in den Vordergrund rücken (vgl. www.krankenhausgeschichte.de).
Seit 1966 verfügt die Deutsche Gesellschaft für Krankenhausgeschichte mit „Historia Hospitalium“ über eine Schriftenreihe beziehungsweise ein Jahrbuch, für deren Herausgabe nunmehr – mit dem vorliegenden Band 27 („Krankenhausgeschichte heute“) – Gunnar Stollberg, Christina Vanja und Ernst Kraas die Verantwortung übernommen haben.
Dr. Gunnar Stollbergist Professor im Ruhestand an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie heterodoxer medizinischer Verfahren sowie die Krankenhausgeschichte – beides in globaler Perspektive.
Dr. Christina Vanjaist Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Kassel und Leiterin des Fachbereiches „Archiv, Gedenkstätten, Historische Sammlungen“ beim Landeswohlfahrtsverband Hessen in Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin sowie die Hospital- und Psychiatriegeschichte.
Dr. Ernst Kraasist Professor für Minimal-Invasive Chirurgie in den DRK-Kliniken Berlin-Westend. Neben der Chirurgie interessiert er sich besonders für die Geschichte der Medizin. Seit 2009 ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte.
Wie Gunnar Stollbergund Christina Vanja im Editorial schreiben, geschah ihre Entscheidung für die Redaktionsübernahme „vor allem in der Hoffnung auf einen gewissen Neubeginn. Die architekturhistorische Ausrichtung des Jahrbuchs soll um sozial- und gesellschafts- sowie kulturgeschichtliche Perspektiven auf Hospitäler, Krankenhäuser und ähnliche medizinische Organisationen ergänzt und die dunklen Seiten der historischen Entwicklung sollen ausdrücklich in diese Perspektiven einbezogen werden“ (S. 2). Diese erweiterte Intention habe damit zu kämpfen, dass die Krankenhausgeschichte kein sich neu etablierendes Feld, sondern ein an speziellerem Interesse eher verlierendes Gebiet innerhalb der aus wissenschaftspolitischen Gründen an (wo)manpower verlierenden Medizingeschichte ist. Diesem Bedeutungsverlust auf wissenschaftlicher Ebene stünden Wandlungsprozesse gegenwärtiger Krankenhäuser gegenüber, die sich keineswegs als Bedeutungsverlust dieser Organisationsform fassen lassen. Seit eineinhalb Jahrzehnten seien die deutschen Krankenhäuser erheblichen Wandlungsprozessen (Verkürzung der Liegezeiten, Minimierung invasiver Eingriffe bei Zunahme der Bedeutung technischer Artefakte, Veränderung der Finanzierungsformen, Privatisierung etc.) unterworfen, die nicht nur selbst Gegenstand historischer Erörterungen sein, sondern auch die Fragestellungen bezüglich früherer Zustände und Entwicklungen verändern können.
Nach der Neukonzeption besteht das Jahrbuch Historia Hospitalium künftig aus drei Teilen: Erstens einen „Wissenschaftsteil“, dessen Artikel das übliche anonymisierte peer-review-Verfahren durchlaufen, zweitens einen „Kommunikationsteil“, der vor allem dem Austausch innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte gewidmet sein wird, und drittens einen „Rezensionsteil“.
Dementsprechend zeigt der vorliegende Band folgenden Aufbau.
Im ersten Teil (S. 5-137) nehmen MedizinhistorikerInnen zu der Frage Stellung, was Krankenhausgeschichte heute ist und sein kann. Im Einzelnen finden sich hierzu die folgenden Beiträge:
- Carlos Watzka: Zur Sozialgeschichte des Hospitals / Krankenhauses (S. 5-15)
- Cornelius Borck: Quo vadis, Krankenhausgeschichte? (S. 17-22)
- Martin Scheutz, Alfred Stefan Weiss: Vom Rosenkranz zum Skalpell in einer sich auflösenden Ständegesellschaft (S. 23-32)
- Fritz Dross: Stadt und Hospital / Krankenhaus (S. 33-41)
- Volker Hess: Krankenakten als Gegenstand der Krankenhausgeschichtsschreibung (S. 43-52)
- Irmtraut Sahmland: Überlegungen zu Perspektiven der Hospital- und Krankenhausgeschichte, ausgehend von Forschungen über die hessischen Hohen Hospitäler (S. 53-61)
- Heiner Fangerau: Krankenhausgeschichten – „Anstaltsfeste“, Dankschreiben und Beschwerden (S. 63-69)
- Michael Stolberg: Fürsorgliche Ausgrenzung. Die Geschichte der Unheilbarenhäuser (1500-1900) (S. 71-78)
- Karen Nolte: „… wohlthätige Hülfe für die nothleidenden Armen und Bildung junger Ärzte“ – Polikliniken im frühen 19. Jahrhundert (S. 79-85)
- Iris Ritzmann: Junge Patienten in alten Spitälern – Stichworte zur Bedeutung von Kindern für die Hospitalgeschichtsforschung (S. 87-94)
- Christina Vanja: Plädoyer für eine Geschichte der Heilanstalten (S. 95-104)
- Andreas Frewer: Strangers in the Hospital? Zur Entwicklung von Ethik und Ethikgremien im Krankenhaus (S. 105-114)
- Gunnar Stollberg: Soziologische Perspektiven auf das Krankenhaus (S. 115-123)
- Hans-Uwe Lammel: Das Hospital als der Raum dazwischen – Fragen einer postkolonialen Krankenhausgeschichte (S. 125-130)
- Ernst Kraas, Anne Marie Freybourg: Krankenhausgeschichte im Krankenhaus – Erfahrungen vor Ort (S. 131-137).
Der zweite Teil (S. 139-330) enthält Referate des Pariser Symposiums der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte zum Thema "Krankenhäuser in Frankreich, Deutschland und Polen – Einflüsse und Entwicklungen 1780 - 2010". Im Einzelnen finden sich hierzu die folgenden Beiträge:
a.) Vorträge des Symposiums der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte in Paris, September 2010, und Exkursionsbericht
- Ernst Kraas: Einführung zum Symposium: Krankenhäuser in Frankreich, Deutschland und Polen (S. 141-148)
- Axel Hinrich Murken: Vom Hospital zum Krankenhaus – Von Paris nach Berlin (S. 149-180)
- Peter R. Pawlik: Der Wandel der Architektur und der Struktur des europäischen Krankenhauses im 20. Jahrhundert (S. 181-221)
- Bernhard Jungnitz: Paris 1633 – Meilenstein in der Entwicklung neuzeitlicher Krankenpflege (S. 223-238)
- Wolfram Otto: Jacques Tenon (1724-1816): Mitbegründer des modernen Krankenhauswesens (S. 239-258)
- Piotr Gerber: Probleme der Modernisierung historischer Krankenhäuser in Niederschlesien (S. 259-269)
- Dieter Schiffzyk: Infame Räume oder: Die toten Vögel von Lyon (S. 271-296)
- Oleg Peters: Der Architekt Heino Schmieden und seine Verdienste um den Bau Berliner Krankenhäuser (S. 297-319)
b.) Vortrag auf der Mitgliederversammlung am 7.5.2011 in Unna
- Bernhard Jungnitz: Das Krankenhauswesen im Kreis Unna (S. 321-330).
Der dritte Teil (S. 331-334), den Christina Vanja zusammengestellt hat, dokumentiert neuere Literatur zur Hospital- und Krankenhausgeschichte. Da für den Rezensionsteil die Vorbereitungszeit zu knapp war, beschränken sich die Angaben auf die bibliographischen Angaben entsprechender Neuerscheinungen.
Die Vielzahl der Beiträge kann und braucht hier einzelnen nicht näher vorgestellt zu werden. In Hinblick auf die Leserschaft der Geschichte der Pflege sei lediglich auf den Beitrag von Bernhard Jungnitz „Paris 1633 – Meilenstein in der Entwicklung neuzeitlicher Krankenpflege“ besonders hingewiesen. Ausgehend von der aktuellen Lage der Pflege, insbesondere der Krankenpflege, und den zu erwartenden Anforderungen an Pflege in Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten untersucht der Autor, der als Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen im Gesundheitsamt des Kreises Unna tätig ist, darin die Entwicklung der Pflege auf die heutige Situation hin. Dabei macht er deutlich, dass Krankenpflege als staatlich reglementierter Beruf ein junger Beruf ist: Gerade einmal einhundert Jahre alt. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, in dem die philosophisch orientierte „Bibliothekenmedizin“ der naturwissenschaftlich geprägten „Krankenhausmedizin“ wich, habe die Krankenpflege – die in Deutschland zunächst und vor allem von kirchlich gebundenen und genossenschaftlich organisierten Frauengemeinschaften geleistet worden sei – befruchtende und herausfordernde Impulse erhalten, so dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Reifeprozess der Krankenpflege mit der staatlichen Sanktionierung im Jahre 1906 zu einem vorläufigen Abschluss kam. Vorbild für genossenschaftlich organisierte Kranke pflegende Gemeinschaften in Deutschland, so Bernhard Jungnitz, seien die französischen Filles de la Charité – Barmherzige Schwestern – Vinzentinerinnen gewesen, die im Jahre 1633 in Paris von Vinzenz von Paul und Louise de Marillac gegründet worden sind. Wenngleich die beiden in der ersten Hälfte des17. Jahrhunderts „etwas Neues, bis dahin nicht Vorgekommenes geschaffen“ hätten, sei ihr Werk „keine völlige Neuschöpfung“ (S. 236) gewesen. Zumindest inhaltlich hätten sie auf das Vorbild der Barmherzigen Brüder des heiligen Johannes von Gott, zum Zeitpunkt der Gründung der Vinzentinerinnen fast einhundert Jahre alt, zurückgreifen können.
Insgesamt betrachtet kann man der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte zur überaus gut gelungenen Neukonzeption ihrer Schriftenreihe Historia Hospitalium nur gratulieren. Die erweiterte Ausrichtung des Jahrbuchs mit sozial-, gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Perspektiven auf Hospitäler, Krankenhäuser und ähnliche medizinische Organisationen ist sehr zu begrüßen. So bietet die aktuelle Ausgabe ihrer Leserschaft eine große Fülle an Informationen und Anregungen zur Hospital- und Krankenhausgeschichte, bei der man sich unter pflegehistorischer Perspektive lediglich eine noch stärke Berücksichtigung der Krankenpflege gewünscht hätte.