Jim G. Tobias, Nicola Schlichting (Hrsg.): Nurinst 2012. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Band 6. Scherpunktthema: Gesundheit, medizinische Versorgung, Rehabilitation.Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Antogo Verlag. Nürnberg 2012, 190 Seiten, broschiert, 12,80 Euro, ISBN 978-3-938286-45-6
Rezension von: Dr. Hubert Kolling
Bereits seit dem Jahre 2002 veröffentlicht das Anfang 2001 gegründete „Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V.“ (vgl. www.nurinst.org) im zweijährigen Rhythmus in der Schriftenreihe „nurinst – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte“ sein Jahrbuch. Nach den Bänden „Jüdisches Leben in Fürth“ (2002), „Zwischen Amnesie und Aufarbeitung – Zur Kultur der Erinnerung“ (2004), „Fußball“ (2006), „Entrechtung und Enteignung (2008) sowie „Leben danach – Jüdischer Neubeginn im Land der Täter“ (2010) beschäftigt sich die aktuelle Ausgabe schwerpunktmäßig mit dem Thema „Gesundheit, medizinische Versorgung, Rehabilitation“. Für die Herausgabe des Buches, dessen Drucklegung mit Unterstützung der „Kost Pocher´schen Stiftung Nürnberg“ erfolgte, zeichnen sich Jim G. Tobias und Nicola Schlichting verantwortlich.
Jim G. Tobias, Jahrgang 1953, der das „Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V.“ leitet, ist Filmemacher und freier Journalist. Er dreht TV-Dokumentationen und publiziert über den Nationalsozialismus sowie über jüdische Zeitgeschichte. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören unter anderem „Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frankfurt“ (2011), „‘... und wir waren Deutsche!‘ Jüdische Emigranten erinnern sich. Ein Lesebuch“ (2009), „Sie sind Bürger Israels. Ausbildung und Rekrutierung von jüdischen Soldaten in Deutschland 1946-1948“ (2007), „‘Zu Pessach nach Unterfranken‘. Das jüdische DP-Camp Giebelstadt 1948-49“ (2005), „‘Ihr Gewissen war rein; sie haben es nie benutzt‘. Die Verbrechen der Polizeikompanie Nürnberg“ (2005) und (mit Peter Zinke) „Nakam. Jüdische Rache an NS-Tätern“ (2000). Zurzeit baut er federführend das Webportal „www.after-the-shoah“ auf, bei dem alle jüdischen DP Camps und Communities in Bayern mit lexikalischen Einträgen dokumentiert werden.
Nicola Schlichting, Jahrgang 1957, studierte Judaistik / Jüdische Studien und Geschichte an den Universitäten Köln und Potsdam. Als freie Mitarbeiterin am „Nürnberger Institut für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts e.V.“ veröffentlichte sie unter anderem „‘Öffnet die Tore von Erez Israel‘. Das jüdische DP-Camp Belsen 1945-1948“ (2005) und (mit Jim G. Tobias) „Heimat auf Zeit – Jüdische Kinder in Rosenheim 1946-47“ (2006). Seit 2011 ist die Historikerin in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Bereich der „Bildung und Begegnung“ tätig.
Zur Bedeutung und Intention des aktuellen Jahrbuches, das zehn Beiträge von elf Autorinnen und Autoren vereint, die nachfolgend kurz vorgestellt werden, schreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung unter anderem: „Mit unserem diesjährigen Schwerpunkt ‚Gesundheit, medizinische Versorgung, Rehabilitation‘ möchten wir einige dieser Aspekte innerhalb der jüdischen Geschichtsschreibung näher beleuchten. Dabei schlagen wir den Bogen von der Zeit der Verfolgung bis zum Neubeginn, sei es in Palästina oder in den Displaced Persons Camps der Nachkriegszeit“ (S. 7).
Unter der Überschrift „Auf den ersten Blick ist der Gesundheits- und Ernährungszustand dieser Leute befriedigend…“ (S. 13-37) beleuchtet Dr. Jael Geis Aspekte die medizinische Versorgung in den jüdischen Assembly Centers der US-Zone. Hierbei gelangt sie zu dem Schluss, dass es den zuständigen Institutionen in der US-Zone in erster Linie darum ging, die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sowie Epidemien zu verhindern und grundlegende Voraussetzungen für ein gesundes Leben zu schaffen.
In dem Beitrag „Die Patienten werden das erforderliche Vertrauen nur den jüdischen Ärzten schenken“ (S. 39-56) beschäftigt sich Jim G. Tobias ebenfalls mit der medizinischen Versorgung der Überlebenden der Shoa. Konkret untersucht er hierbei die Situation in Bayern unter besonderer Berücksichtigung des Krankenhauses in München-Bogenhausen, wo es erst im Frühjahr 1949 mit Dr. Moses Osterweil gelang, einen jüdischen Arzt zum Chefarzt zu bestellen.
Während Nicola Schlichting in ihrem Beitrag „Das Glyn Hughes Hospital im DP Camp Belsen“ (S. 57-80) über die facettenreiche Geschichte des einzigen zentralen jüdischen Krankenhauses in der britischen Zone informiert, stellt Aviv Livnat unter der Überschrift „Non Omnis Moriar“ (S. 81-92) die einzigartige Untersuchung zu Hunger („Hungerstudie“) vor, an der zwischen Januar und Juli 1942 im Ghetto Warschau 28 jüdische Ärzte beteiligt waren, von denen nur acht die Shoa überlebten.
In „Endstation Hadamar“ (93-108) erinnert Melanie Engler an die Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in der Landesheilanstalt Hadamar (1941-1945), wobei sie den erbarmungslosen Vernichtungsprozess, dem von Januar bis August 1941 mehr als 10.000 psychiatrische Patienten in einer eigens im Keller der Anstalt eingerichteten Gaskammer ermordet wurden, anhand der Aussage eines Tötungsarztes nachzeichnet. Die zweite Mordphase, in der von 1942 bis 1945 in Hadamar fast 4.500 psychisch Kranke, Behinderte und anderes „lebensunwertes Leben“ durch überdosierte Medikamente ermordet wurden, zeigt sie an Hand der Lebensgeschichte von Helena H. auf, deren Patientenakte in der Gedenkstätte Hadamar erhalten geblieben ist. Ihren Ausführungen zufolge hielt Dr. Adolf Wahlmann, der seit dem 5. August 1942 als Chefarzt in Hadamar tätig und gemeinsam mit dem Verwaltungsinspektor Alfons Klein für die Durchführung der Morde verantwortlich war, „jeden Morgen eine Konferenz mit der Oberschwester und dem Oberpfleger ab, in der festgelegt wurde, welche Patient/innen zu töten waren. Neben den Patient/innen, die Wahlmann auf der Visite ‚auswählte‘, kamen wohl auch Vorschläge aus dem Kreis des Pflegepersonals. Die Namen wurden auf einen Zettel übertragen, der wiederum der Oberschwester ausgehändigt wurde“ (S. 105).
In ihrem Beitrag „Eure Vorstellungen entsprechen nicht der hiesigen Wirklichkeit“ (S. 109-124) geht Dr. Andrea Livnat der Frage nach dem Anteil der von aus Deutschland vertriebenen Ärzten beim Aufbau des Gesundheitswesens in Erez Israel nach. Ihres Erachtens wurde die damalige Emigration zu einer Erfolgsgeschichte für das Land, während Deutschland immenses Fachwissen verlor.
Für die Leserschaft der Geschichte der Pflege (GdP) dürfte vor allem der Beitrag von Dr. Birgit Seemann „… jener nimmermüde Trieb, Leidenden zu helfen“ (S. 125-139) von besonderem Interesse sein, in dem sie deutsch-jüdische Krankenpflege im 20. Jahrhundert am Beispiel von Frankfurt am Main vorstellt. Da es noch viele Biografien von Pflegenden wie auch ihre Wirkungsstätten – Krankenhäuser, Kinder-, Alters- und Kurheime, Schwesternheime und Schwesternstationen – zu entdecken und zu würdigen gibt, möchte die Sozial- und Kulturwissenschaftlerin, die seit 2006 als Autorin und Redakteurin im Forschungsprojekt und Internetportal „Jüdische Pflegegeschichte / Jewish Nursing History – Biographien und Institutionen“ der Fachhochschule Frankfurt am Main (www.juedische-pflegegeschichte.de) tätig ist, mit ihrem Artikel vor allem zur weiteren Spurensuche anregen. Für an dem Thema weitergehend Interessierte sei hier der Hinweis auf das vom Horst-Peter Wolff (Bände 1-3) und Hubert Kolling (Bände 3-6) herausgegebene „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte“ erlaubt, das zu einer Reihe der in dem Beitrag von Seemann genannten jüdischen Pflegerinnen entsprechende Einträge enthält. Dort konnte nach monatelangen Recherchen vom Verfasser 2001 erstmals auch eine Abbildung von dem für die Entwicklung der jüdischen Krankenpflege in Deutschland bedeutenden jüdischen Arzt Dr. Gustav Feldmann publiziert werden.
Neben dem Schwerpunktthema – bei dem man sich gewünscht hätte, dass es weniger unter medizin- und dafür stärker unter pflegehistorischer Perspektive beleuchtet worden wäre – enthält der Band weitere Texte zur jüdischen Geschichte. Während Carolin Lano in ihrem Beitrag „Von Pizzabäckern, Schlagerstars und Rabbinern“ (S. 141-154) „Jüdisches im deutschen Unterhaltungsfernsehen“ beleuchtet, berichtet Christian Kelch unter der Überschrift „Die Litauer werden den Juden die Shoa nie verzeihen“ (S. 155-170) über den Antisemitismus in der südlichsten Baltenrepublik seit 1990.
Ergänzt wird das sehr lesenswerte Jahrbuch erneut durch einen Beitrag, der eine wissenschaftliche Institution vorstellt. Unter der Überschrift „Vom kulturellen Gedächtnis zur kommunikativen Begegnung“ (S. 171-186) berichten PD Dr. Habbo Knoch und Dr. Thomas Rahe über 60 Jahre Gedenkstätte Bergen-Belsen (1952-2012). Ihres Erachtens muss es Aufgabe von Gedenkstätten wie Bergen-Belsen sein, „jetzt und zukünftig den erforderlichen Raum und die Grundlagen für kommunikative Begegnungen zu schaffen, die in der unbedingten Anerkennung des Anderen gründen und Erklärungen für deren historische Zerstörung suchen“ (S. 186). Dies auch jenseits der Zeit unmittelbarer Augenzeugenschaft zu gewährleisten und zugleich das kulturelle Gedächtnis an den historischen Ort auf Dauer zu bewahren, sei eine zentrale Erwartung der Überlebenden an die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die sie als ihr Vermächtnis überdauern wird.