Katrin Luchsinger, Iris Blum, Jacqueline Fahrni, Monika Jagfeld (Hrsg.): Rosenstrumpf und dornencknie. Werke aus der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau 1867-1930.
Chronos Verlag. Zürich 2010, 87 S., broschiert, ISBN 978-3-0340-1057-3
Rezension von: Dr. Hubert Kolling
Im ehemaligen Kloster Rheinau (Schweiz) wurde 1867 die Kantonale Zürcherische Pflegeanstalt Rheinau eröffnet, die zur größten Einrichtung dieser Art in der Schweiz wurde. Die Pflegeanstalt verfügte über wenig Personal und galt in den ersten Jahrzehnten als rückständig: Ein Wärter beziehungsweise eine Wärterin versorgte zehn Kranke, es gab nur eine Behandlungsklasse, und der ärztliche Direktor war zusammen mit seinem Assistenzarzt für die – alsbald schon achthundert – PatientInnen verantwortlich. Abgesehen von der Überfüllung und einem deutlichen Mangel an Personal, welches zudem schlecht bezahlt und nicht ausgebildet war, gehörten körperliche Zwangsmaßnahmen wie Zwangsjacken, sogenannte Deckelbäder und Gewaltanwendung zum Alltag, wobei die Zahl der aufgenommenen Kranken weiter zunahm. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in Pflegeanstalt Rheinau bis zu 1.200 Geisteskranke, Pfründner und geistig Behinderte, wobei es weiterhin keine eigentliche Behandlung gab. Der Anstaltsalltag war stattdessen streng geregelt und bestand in der Mithilfe in dem großen Betrieb, im Haushalt, im Garten und in der Landwirtschaft. Entlassen wurden unterdessen nur wenige PatientInnen, viele blieben jahrelang, oft bis an ihr Lebensende interniert.
Unter den PatientInnen der Pflegeanstalt Rheinau gab es immer wieder welche, die sich über eine lange Zeit intensiv einer künstlerischen Arbeit zuwandten: Schreiben, Zeichnen, Handarbeiten, technisches Schaffen. Von den außergewöhnlichen Werken, die so im Laufe der Zeit entstandenen, blieben 825 von 23 PatientInnen erhalten, darunter auch Skizzenbücher und Alben. Eine Auswahl aus der jüngst katalogisierten Sammlung wurde erstmals 2010 im Rahmen der Ausstellung „Rosenstrumpf und dornencknie. Werke aus der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau 1867-1930“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu sehen war die Ausstellung, zu der die vorliegende Begleitpublikation erschien, vom 1. Dezember 2010 bis 13. März 2011 im Museum im Lagerhaus St. Gallen und anschließend im Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich; ab Sommer 2013 wird die Ausstellung dann dauerhaft im Historischen Museum Rheinau gezeigt.
In Hinblick auf die Bedeutung ihrer Veröffentlichung weisen die Herausgeberinnen in ihrem Vorwort darauf hin, dass die Urheberinnen und Urheber, deren Werke hier erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden, viele Jahre ihres Lebens in einer psychiatrischen Pflegeanstalt verbrachten und sich dort entschieden, ein großes künstlerisches Unterfangen zu beginnen, welches sie in unterschiedlicher Form der Öffentlichkeit zudachten: als Patent einer Erfindung, als Dichtung, als Kleid, Text oder Bild. Dass ihre Werke entstehen konnten, sei in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Hierzu halten sie wörtlich fest: „Ziel der Internierung war nicht die Entlassung, sondern die Versorgung. In den Werken hingegen kommt der Wille der Schaffenden zum Ausdruck, Teil zu haben am öffentlichen Leben und zu diesem einen Beitrag zu leisten. Dieser wurde allerdings wenig beachtet und die Werke verließen die Anstalt nie. Das Bewusstsein dieser Isolierung spiegelt sich in den Werken und macht sie zu eben solchen komplexen Bildern, in welchen die Einbildungskraft der Realität manchmal den Rang abläuft. Oder die Einbildungskraft verknüpft sich mit seltenen und deshalb umso kostbareren Zeugnissen des Alltags in einer Pflegeanstalt und damit einer für die Betroffenen wie für die Gesellschaft komplexen und schwierigen Situation. Der Wille, eine Lebenssituation mit geringstem Handlungsspielraum souverän in ein ästhetisches Werk um zu münzen, macht die Werke zu berührenden und unerschöpflichen Werken der Kunst“ (S. 9).
Der im DIN-A-4-Format erschienene Begleitkatalog, der auf zwanzig Seiten Farbabbildungen zeigt, gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil „Die Sammlung Rheinau“ (S. 13-68) stellen Iris Blum, Jacqueline Fahrni und Katrin Luchsinger die Geschichte der Sammlung und den Alltag in der Pflegeanstalt vor. Bettina Brand-Claussen widmet sich einigen der wichtigsten und bisher wenig bekannten Werke der selbstbewussten Stickerin Johanna Natalie Wintsch (1871-1944). Einen ersten Einblick in das dichterische und zeichnerische Werk von Hermann M. und in die Erfindungen von Heinrich B., von denen sich einzigartige und umfangreiche Werkgruppen in Rheinau erhalten haben, gibt Katrin Luchsinger. Monika Jagfeld stellt den „Landschaftsmaler“ Jakob Friedrich W. vor, der 1920 in die Pflegeanstalt eintrat und dort sein ganzes Leben lang zeichnete und malte. Zehn der insgesamt 23 „KünstlerInnen“ werden zudem von Jacqueline Fahrni und Katrin Luchsinger in kurzen Biographien vorgestellt.
Die Beiträge im zweiten Teil „Exkurse und Zugänge“ (S. 69-85) verorten die Sammlung in einem erweiterten und interdisziplinären Feld: Monika Jagfeld beschreibt Probleme einer Annäherung an eine noch nicht veröffentlichte Kunst, die im klinischen Kontext entstanden ist, wobei sie als Vergleich auf die sich wandelnde Rezeption der „Sammlung Prinzhorn“ in Heidelberg verweist. Daniel Baumann nähert sich am Beispiel von Adolf Wölflis „Trauer-Marsch“ dem Phänomen der Trance als einer Quelle und zugleich einem Endpunkt der Einbildungskraft. Vincent Barras wagt sich schließlich an das Spiel mit der Sprache zwischen Poesie und Sprachstörung, zwischen Inspiration und Missverständnis, welches alle Möglichkeiten der Verständigung über die Werke formt.
Die Ausstellung und die Begleitpublikation sind sehr zu begrüßen, weil sie die Öffentlichkeit auf eine ungewöhnliche Kunstsammlung aufmerksam machen und dazu beitragen, dass sie sichtbar und der weiteren Bearbeitung zugänglich bleibt. Die Bedeutung der gezeigten Werke ist dabei umso größer, als aus keiner anderen der wenigen ausschließlichen Pflegeanstalten, die es in der Schweiz gab, eine vergleichbare Sammlung bekannt ist. In jedem Fall ist die Veröffentlichung „Rosenstrumpf und dornencknie“ ein wichtiger Beitrag zur Förderung des eher neuen und anspruchsvollen interdisziplinären Austauschs zwischen Psychiatrie-, Sozial- und Kunstgeschichte.