Trudi von Fellenberg-Bitzi
Liliane Juchli – ein Leben für die Pflege
Thieme-Verlag., Stuttgart, 2013, 222 S., ISBN 978-3-13-173021, € 24,99
Eine Rezension von Irmgard Hofmann, M.A. (phil)
„Die Juchli“ – das war auch mein Lehrbuch in der Krankenpflegeausbildung 1976. Wie die meisten meiner Mitschüler/innen schaute auch ich so gut wie nie in das Buch, weder während noch nach der Ausbildung. Das sagt aber nichts über das Lehrbuch als solches aus, wir orientierten uns eben an den Skripten unserer Lehrenden und diese ermunterten uns nicht, die „Juchli“ zu benutzen.
Später verglich ich mehrere Ausgaben der Juchli aus beruflichem Interesse mit der Frage, welche ethischen Komponenten dieses Lehrbuch wohl beinhalte. In den ersten Auflagen wurde ich mit den üblichen Forderungen nach gutem Benehmen etc. fündig; in den späteren (bis 1990) fand ich ebenfalls keine fundierten ethischen Grundlagen, aber viele Hinweise darauf, wie wichtig die Selbstpflege sei und auch transzendente Elemente, die mir in Teilen aber zu christlich-esoterisch erschienen. Eine rationale Auseinandersetzung mit ethisch relevanten Aspekten der Pflege fand ich nicht.
Das sind die Voraussetzungen, unter denen ich die Biografie zum 80. Geburtstag von Liliane Juchli gelesen habe und sie machen es mir nicht leicht, eine faire Rezension zu schreiben. Denn einerseits – und das ist völlig unbestritten – hat die Schweizerin es geschafft, die bis Anfang der 1980er Jahre üblichen, von Ärzten geschriebenen und rein medizinisch orientierten Lehrbücher abzulösen. Dieser Verdienst kann kaum genug gewürdigt werden. Andererseits hat sie mit ihrem Anspruch auf „ganzheitliche“ Pflege einen Mythos fortgesetzt, der unzählige Pflegende erneut in die Überforderungsfalle geschickt hat – in guter Tradition zu den „christlichen“ Vorstellungen der Pflege bis in die späten 1970er Jahre, die sich ungefähr so zusammen fassen lassen: „Liebe deinen pflegebedürftigen Patienten und vergiss dich selbst!“
Zwar war und ist es der Anspruch von Juchli, geboren aus eigenen schmerzlichen Erfahrungen, das ganzheitliche Denken auch auf die eigene Person zu beziehen, aber das gelang und gelingt vielen Pflegenden nur mäßig. Auch Juchli selbst beschreibt, dass sie es erst nach mehreren Zusammenbrüchen und einer entsprechenden Therapie schaffte. Natürlich war und ist es wichtig, die Selbstpflege der Pflegenden zu thematisieren und auch das ist mit ein Verdienst von Juchli, dass dieses Thema heute zum Unterrichtskanon gehört. Aber ihre Ansätze, die ich Anfang der 1990er Jahre nach meinem Philosophiestudium las, schienen mir teilweise zu einseitig und mir fehlte der wissenschaftliche Anspruch.
Die Biografie selbst umfasst 10 Kapitel. Erzählt wird von den Kinder- und Jugendjahren über die Ausbildung zur Krankenschwester; der Eintritt in den Orden der Ingenbohler Schwestern, ihre Tätigkeit als Kranken- und Schulschwester. Die Zeit der Krise und die Entwicklung zur Lehrbuchschreiberin und häufig reisenden Dozentin mit hoher Anerkennung im In- und Ausland sowie die Zeit des Alters. Etliche Bilder geben Einblicke in das Leben der Ordensfrau, Lehrerin und viel gefeierten Autorin.
Die Biografin ist ganz offensichtlich begeistert von Liliane Juchli und deren Werdegang. Insbesondere die Zeit des Ordenslebens wird ausführlich dargestellt. Es gibt keinerlei differenzierende Rückfragen oder Anmerkungen, das ganze Leben und Werk wird in einem Ton kritikloser Bewunderung aufgezeigt. Dabei wäre es – angesichts der Entwicklungen in der Pflege – doch nachvollziehbar gewesen zu fragen, warum Juchli erst Ende der 1990er Jahre zu der Erkenntnis kommt, dass sie allein kein Lehrbuch mehr schreiben kann, das der Pflege im Ganzen gerecht wird. Wobei das auch am Verlag liegen könnte, war doch „die Juchli“ ein sehr weit verbreitetes Lehrbuch. Doch dazu findet sich nichts. Es entspricht aber einer gewissen tradierten Denkweise, wonach Pflegende „allumfassend“ zuständig seien und damit „grenzenlos“ – mit allen idealistischen Größenfantasien und Überforderungssymptomen. Als Lehrende in der Altenpflege, die mit viel Mühe versucht, den Auszubildenden beizubringen, dass sie nicht nur auf die Grenzen anderer, sondern auch auf ihre eigenen Grenzen achten sollen, fällt es mir schwer, diesem Aspekt etwas Positives abzugewinnen.
Der Ansatz „Ich pflege als die, die ich bin“, ist einerseits selbstverständlich in dem Sinne, dass niemand als jemand anderer pflegen kann, als der er ist. Im Juchli`schen Sinne spricht daraus die Achtung gegenüber der eigenen Person, die aus der Achtung vor sich selbst auch achtsam mit anderen Menschen umgeht. Kritisch betrachtet bedarf diese Aussage einer nahezu permanenten Reflexion, da etliche Pflegende sich selbst gerade nicht mögen (was sich z.B. in einem ausgeprägten Helfersyndrom mit all seinen Schattenseiten zeigt) und dieses sich nicht mögen auf andere übertragen.
Zusammenfassend möchte ich das Ganze folgendermaßen beurteilen: Liliane Juchli war ganz sicher eine äußerst wichtige Vorreiterin aus der Pflege für die Pflege im deutschsprachigen Raum. Sie hat ein Leben lang an der Weiterentwicklung der Pflege gearbeitet – und dafür hat sie meine Achtung und meinen Respekt. Manchmal wäre – nach meinem Verständnis - mehr strenge Wissenschaftlichkeit für die Entwicklung der Pflege hilfreicher gewesen, hier bleibt meine Kritik bestehen, auch wenn ich weiß, dass die Pflege als Wissenschaft in den deutschsprachigen Ländern noch recht jung ist. Für die kritiklose Bewunderung der Biografin kann die Jubilarin selbst nichts, aber es erschwerte mir das Lesen sehr.