Kulmey - Autonomie trotz Multimorbidität

Kuhlmey, Adelheid und Clemens Tesch-Römer (Hrsg.)

Autonomie trotz Multimorbidität

Ressourcen für Selbstständigkeit und Selbstbestimmung im Alter

Verlag Hans Huber, Bern, 2013, 225 S., 39,95 € ISBN 978-38017-2296-8

Rezension von Prof. Dr. Hermann Brandenburg

Im Vorwort des Reihenherausgeber Uwe Flick heißt es: „Die Kernfrage ist dabei, wie Prävention, Therapie und Rehabilitation, kurz die Versorgung, so gestaltet werden, dass auch bei Multimorbidität das Mögliche an Autonomie, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sowie Lebensqualität für die betroffenen alten Menschen gewährleistet werden kann“. Welche Ressourcen sind dafür notwendig? Welche Barrieren in sozial benachteiligten Quartieren sind zu beachten? Wie kann Autonomie trotz hoher Pflegebedürftigkeit und Schmerzen auch in Pflegeheimen gewährleistet werden? Die sind nur einige Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Es präsentiert empirische Befunde des Berliner Forschungsverbunds „Autonomie trotz Multimorbidität im Alter“ (AMA), eines disziplinübergreifenden Zusammenschlusses von 10 Berliner Forschungseinrichtungen und etwa 50 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Der Verbund wurde im Rahmen des Programms „Gesundheit im Alter“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell unterstützt. Das Buch präsentiert die Ergebnisse der ersten Phase des Forschungsverbunds (AMA I). Einerseits stehen Instrumente, theoretisch-konzeptionelle Überlegungen und Zugangswege zur Erfassung der zentralen Konstrukte im Vordergrund. Andererseits, und dies ist der Schwerpunkt, werden empirische Befunde zu personalen, medizinisch-pflegerischen, sozial-ökonomischen sowie sozial-räumlichen Faktoren berichtet, welche Autonomie trotz Multimorbidität weiter aufrecht erhalten.

Bei den Autoren handelt es sich um die für die Projekte verantwortlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Als Herausgeber sind zwei in der Thematik ausgewiesene Personen involviert: Adelheid Kuhlmey ist seit 2002 Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie an der Charité in Berlin und Clemens Tesch-Römer leitet seit 1998 das Deutsche Zentrum für Altersfragen in Berlin (DZA).

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, in denen sowohl über grundlegend-konzeptionelle Diskussionen (relevant für den gesamten Forschungsverbund) wie auch Einzelergebnisse der Teilprojekte berichtet wird. Den letzten Beitrag bildet eine systematische Reflexion der Erfahrungen des Berliner Verbunds, vor allem im Hinblick auf Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Forschung. Leserfreundlich ist die Zusammenfassung wichtiger Inhalte in Form von Kernaussagen, die den Beiträgen vorangestellt werden.

  •  Die Einführung (Kuhlmey und Tesch-Römer) klärt zentrale Begriffe der Verbundforschung (z. B. Multimorbidität, Lebensqualität, Ressourcen etc.). Hier wird bereits deutlich, dass ein Verbundprojekt eine kontinuierliche Kommunikation zur Voraussetzung hat. Die Verständigung über Begriffe, Konzepte, Instrumente ist dabei ein erster Schritt. Es müssen Festlegungen getroffen werden, die für alle Beteiligten orientierend sind. Ansonsten kann der Vergleich von Einzelbefunden und die entsprechende theoretische Einordnung nicht realisiert werden. Bei den oben genannten Konstrukten wird erkennbar, welche Disziplinen sich wie in welcher Form bei der inhaltlich-konzeptionellen Bestimmung „durchgesetzt“ haben. Multimorbidität wird als „gleichzeitiges Auftreten und Bestehen mehrerer Erkrankungen“ (S. 13) verstanden, d. h. als medizinisch-geriatrisches Phänomen. Lebensqualität wird als „multidimensionales Konstrukt“ (S. 15) aufgefasst, wobei die Bestimmung des amerikanischen Gerontologen Lawton leitend ist. Für die Autonomie wird die Wechselwirkung zwischen Selbstbestimmung und Selbstständigkeit in verschiedenen Lebensbereichen als bestimmend angesehen, hier war auch die WHO-Definition (S. 16) wichtig. Bei dem Ressourcen-Begriff wird einerseits an psychologische Debatten um die Puffer-Hypothese von Cohen und Wills aus den 1980er Jahren angeknüpft, andererseits an Klassifikationsansätze des französischen Soziologen Bourdieu, der statt (personaler) Ressourcen vorwiegend milieuspezifische Kapitalausstattungen, soziale Positionen und Lebensstile im Blick hat.
  • Der Beitrag von Holzhausen und Kollegium konzentriert sich auf die Frage, wie Multimorbidität, Autonomie und Lebensqualität bei einer großen Stichprobe konzipiert und standardisiert erfasst werden kann. Er beruht auf dem Projekt OMAHA (Operationalisierung von Multimorbidität und Autonomie für die Versorgungsforschung in alternden Populationen). Die Cumulative Illness Rating Scale (CIRS) dient dabei als Leitfaden. Auf das Problem der systematischen Unterrepräsentanz bestimmter Teilgruppen (z. B. Pflegeheimbewohner oder Migranten) wird verwiesen. Der Beitrag präsentiert methodische Grundlagen zur Einschätzung von Krankheitslast, Versorgungsbedarf und Präventionsquote in der Bevölkerung ab 65 Jahren.
  • Beinhoff und Riepe beschäftigen sich mit einer der sonst vernachlässigten Teilgruppen, nämlich älteren Migranten türkischer bzw. russischer Herkunft mit kognitiven Beeinträchtigungen. Grundlage ist das Projekt MIGRANDEM (Demenz und Multimorbidität bei Migranten mit nicht deutscher Muttersprache im urbanen Raum). Verfahren der Früherkennung (von Demenz) und Multimorbidität wurden weiterentwickelt, Auswirkungen der Demenz auf Autonomie und Lebensqualität untersucht. Deutlich wurde u. a. wie schwer eine umfassende kognitive Untersuchung der Zielgruppe ist. Eine Folgerung: Sprachunabhängige Testverfahren zur Diagnose kognitiver Beeinträchtigungen müssen entwickelt werden.
  • Die Ressourcen von in Privathaushalten lebenden Menschen zur Führung eines selbstständigen und selbstbestimmten Lebens sind Gegenstand von zwei weiteren Texten, nämlichen denen von Schütz und Kollegium sowie Heusinger und Kollegium. Der zuerst genannte Beitrag zeigt, welche Bedeutung personengebunden Ressourcen für die Aufrechterhaltung von Autonomie haben. Das Projekt PREFER (Personale Ressourcen für Autonomie und Lebensqualität bei älteren Menschen mit Mehrfacherkrankung) diente als Grundlage. Im Ergebnis konnte herausgearbeitet werden, dass soziale Unterstützung Autonomieempfinden fördert – aber nur, wenn die Selbstwirksamkeitserwartungen der Person niedrig sind. Besitzen jedoch ältere erkrankte Menschen noch ein starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, kann soziale Unterstützung als Einschränkung erlebt. Es kommt also auf eine passgenaue Hilfe und Unterstützung an. Der sozial-ökologische Aspekt wird in dem Beitrag von Heusinger in den Vordergrund gerückt. Die dargestellten Befunde basieren auf dem Projekt NEIGHBOURHOOD (Autonomieerhalt angesichts von Sturzfolgen in sozial benachteiligten Quartieren und Nachbarschaften). Erkennbar wurde hier, dass individuell-präventive Maßnahmen nicht ausreichen, sondern soziale Teilhabe Pflegebedürftiger bewusster und systematischer gesellschaftspolitischer Unterstützung bedarf. Einsamkeit im Alter ist ein Problem, was bislang eher unterschätzt wurde. Die Verantwortung der Kommune und der sozial-räumlichen Ressourcen muss daher akzentuiert werden.
  • Die Situation pflegebedürftiger Menschen in Heimen steht in zwei Beiträgen im Zentrum. Der Text von Garms-Homolová und Kollegium befasst sich mit Schlafstörungen Heimbewohnern, leitend ist das Projekt INSOMNIA (Interrelation of Sleep Disorders and Multimorbidity in Nursing Institutions for the Aged). Das ernüchternde Ergebnis lautet: Bewohner mit Schlaf- und Wachstörungen werden im Hinblick auf externe Ressourcen benachteiligt. Eine Ursache: Dem Personal fehlt das Problembewusstsein, die Kompetenz, die Motivation. Problematisch ist auch die Lage der Personen mit exzessivem Schlaf, die (auch von Physio- und Ergotherapeuten) signifikant weniger mobilisiert werden. Überhaupt ist die Gruppe der hoch vulnerablen multimorbiden und schwer demenziell erkrankten und z. T. bettlägerigen Personen eine institutionell-fachliche Herausforderung ersten Ranges. Die Schmerzthematik ist Gegenstand der Veröffentlichung von Dräger und Kollegium, welche auf dem PAIN-Projekt basiert (Pain and Autonomy in the Nursing Home). Der Beitrag stellt Schmerzen als Kumulationspunkt von unterschiedlichen Erkrankungen dar, diskutiert deren therapeutische Beeinflussung. Erschreckend ist die hohe Zahl der unter Schmerzen leidenden Heimbewohner (mehr als die Hälfte der Bewohner mit leichten bis mittleren kognitiven Beeinträchtigungen) und skandalös die insuffiziente Qualität und Angemessenheit der Medikation. 20% aller Bewohner erhalten mindestens einen potenziell unangemessenen Arzneistoff; unangemessene Schmerzmedikation wurde bei 75% aller Betroffenen „auffällig“ (S. 165). Dieser Befund verweist auf die defizitäre medizinische Versorgung in Heimen.
  • Der abschließende Text von Richter und Kollegium beschäftigt sich mit Alter und Multimorbidität als Herausforderung für die Forschung in Verbundzusammenhängen. Dieser Text ist außerordentlich lesenswert, denn er informiert über Möglichkeiten und Grenzen einer interdisziplinären Kooperation aus erster Hand. Einerseits wird in vielen Diskussionen Interdisziplinarität betont und eingefordert, andererseits verlaufen die Karrieren im Wissenschaftsbetrieb monodisziplinär, kostet der Blick über den Tellerrand zu viel Zeit, ist die Hemmschwelle für echte Interdisziplinarität extrem hoch. Darüber hinaus setzt echte Interdisziplinarität immer die Bereitschaft zur Irritation der eigenen Position bereit – und dazu sind nur wenige bereit. Weiterführend sind die auf den konkreten Erfahrungen basierenden Vorschläge für eine verbesserte Zusammenarbeit der Disziplinen. Genannt werden u. a. themenbezogene Arbeitsgruppen, Workshops, themenfokussierte Publikationen. Der Gewinn übergreifender Kooperation steht außer Frage. Und insbesondere für die Gerontologie (aber auch für die Pflegewissenschaft) geht es nicht anders. Aber die Barrieren dürfen nicht unterschätzt werden - so eine Konsequenz dieses letzten Beitrags.

Ein sehr gutes Buch, welches eine Fülle von Detailinformationen enthält und zum kritischen Nachdenken anregt, insbesondere zur Versorgung alter Menschen. Konstruktiv ist auch die Reflexion der Erfahrungen mit der Herausforderung der interdisziplinären Zusammenarbeit. Für die einzelnen Disziplinen - von der Medizin über die Pflegewissenschaft bis hin zur Psychologie - bietet der Band wertvolle Erkenntnisse. Wünschenswert ist eine grundlegende Kritik des Autonomiepostulats. Diesbezüglich sind mehr als nur drei Zeilen erforderlich, in denen die feministische Kritik angesprochen wird (S. 211). An dieser Stelle hätte man auf pflegewissenschaftliche Fürsorgekonzepte eingehen können. Ebenfalls wirft die Operationalisierung des Autonomiekonstrukts Fragen auf. Unklar bleibt z. B., ob Selbstständigkeit eine Dimension oder eine Determinante von Autonomie ist. Aber diese Fragen können ja Thema von AMA II werden.