Anonyma
Endstation Demenz-WG?
Zwei Jahre als Pflegehelferin
Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover, 2014, 120 S., 14,95 €, ISBN: 9783899933178
Rezension von Prof. Dr. Bernd Reuschenbach
Wieder einmal ein Buch von einem anonymen Autor, der die Situation in der Pflege kritisch beleuchtet. Das kennen wir schon. Nach dem Buch „Wohin mit Vater“, der die Sichtweise eines prominenten Angehörigen in den Blick nimmt, nun ein Buch aus der Innenperspektive. In „Endstation Demenz-WG?“ berichtet eine Pflegehelferin von ihren Erfahrungen als Mitarbeiterin in einer Demenz-WG. Der Titel lässt erahnen, wie die Pflege dort wahrgenommen wird. Es wird schnell deutlich, dass das Fragezeichen im Titel („Endstation Demenz-WG?“ ) zu einem Ausrufezeichen wird. Und doch tauchen am Ende der 117 Seiten neue Fragezeichen auf: Warum bleibt die Autorin anonym? Wem nützt dieser problemfokussierte Blick auf die Misere in einer Demenz-WG?
Die anonym bleibende Autorin des Buches wurde „aus der Arbeitslosigkeit heraus als Pflegehelferin vermittelt. Zwei Jahre lang arbeitete sie in einer Demenz-WG“ (S. 4). Sie ist alleinerziehende Mutter zweier Töchter und verfügt „über eine abgeschlossene Berufsausbildung im Einzelhandel und ein selbstfinanziertes Fernstudium zur Gesundheitstherapeutin“. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Ein-Euro-Jobberin wurde sie vom Jobcenter als Pflegehelferin in eine Wohngemeinschaft vermittelt. In insgesamt 28 Kapiteln schildert sie ihre Erlebnisse vom Leben und Arbeiten in der Demenz-WG und den dortigen organisatorischen Rahmenbedingungen. Gerahmt werden die Schilderungen von ihrem eigenen „Nachwort“, das einiges des zuvor Geschriebenen relativiert, und einem Vorwort von Klaus-Werner Pawletko, Geschäftsführer von „Freunde alter Menschen e. V.“ in Berlin.
Die 28 Bilder, die die Autorin von der Demenz-WG zeichnet, sind nicht chronologisch oder thematisch gegliedert, sondern episodenhaft aneinandergereiht. Die geschilderten Probleme lassen sich auf drei Ebenen einordnen:
- Anforderungen und Missstände in der direkten Versorgung der zehn Bewohnerinnen und Bewohner der Demenz-WG
- Team- und Führungsprobleme, die letztlich auch die Versorgung negativ beeinflussen und
- übergeordnete organisatorische Probleme.
Zum Ersten: Die dort erlebte Pflege wird von der Autorin als wenig bis gar nicht personenorientiert beschrieben. Wünsche der Bewohnerinnen/Bewohner und deren Angehöriger werden nicht beachtet: Da ist die Szene in der die Fernbedienung des Bewohners weggeschlossen wird, damit er früher einschläft, um ihm am anderen Morgen früher „waschen“ zu können. Da sind die beschriebenen Fälle, in denen gegen den Willen der Angehörigen der Hausarzt gewechselt wird. Da sind auch ganz schwerwiegende Pflegefehler, die beschrieben werden, z. B. der Umgang mit sterbenden Bewohnern, die im Wohnbereich elend versterben, weil kein Absauger vorhanden ist.
Auf der zweiten Ebene wird deutlich, dass dort offensichtlich Kolleginnen und Kollegen arbeiten, die kein Interesse (mehr) an einer menschenwürdigen Pflege haben, die den Alltag bewältigen wollen und jede Veränderung als Störung erleben („Das haben wir hier noch nie so gemacht“, S. 52). Hinzu kommen Verhaltensweisen, die man als Mobbing deuten kann.
Auf der dritten Ebene werden Führungsprobleme deutlich. Eine Pflegedienstleitung, die Mitarbeitende nicht qualifikationsorientiert einsetzt, sondern nur irgendwie den Betrieb aufrechterhalten möchte. Eine Führungsperson im Wohnbereich, die nichts zu sagen hat und auch nichts sagen möchte.
Zu den strukturellen Problemen zählen die nicht funktionierende technische Ausstattung (z. B. eine defekte Waschmaschine) oder die fehlende Barrierefreiheit in der Wohnung.
Die Motivation der Autorin, dort trotz aller Missstände zwei Jahre zu arbeiten, erschließt sich aus der Art der Darstellung und der Auswahl der Themen. Sie ist getragen von einem hohen Anspruch an eine menschenwürdige Pflege, die Autonomie fördert und die Biografie der Dementen beachtet. Sie ist geprägt von der Idee, dass trotz schlechter Rahmenbedingungen eine qualitativ hochwertige Pflege möglich sein kann, wenn alle Kolleginnen und Kollegen diese Zielsetzung ebenfalls engagiert verfolgen und die Rahmenbedingungen stimmen. Letzteres war in der Demenz-WG offensichtlich nicht der Fall, was zur Beendigung der Tätigkeit und damit letztlich zum Buch führte.
Der Grund, warum die Autorin als Anonyma auftritt ist vermutlich, dass dort einige strafrechtlich relevante Dinge vorgefallen sind: Körperverletzungen, Abrechnungsbetrug, Urkundenfälschung etc.
Eine Bewertung des Buches fällt schwer, weil der Leserkreis und die Absicht des Buches unklar bleiben.
Ich interpretiere dieses Buch so: Es ist in erster Linie eine kathartische Aufarbeitung der eigenen Arbeitserfahrung der Autorin. Leider dominiert dabei nicht nur die Reflexion der Pflegepraxis, sondern in weiten Teil die Auseinandersetzung mit den unliebsamen Kolleginnen. Beispielhaft ist hier das Kapitel 16 zu nennen, in der die Eigenheiten der Kolleginnen kommentiert und bewertet werden und man sich am Ende fragt: Wen interessiert das? Andere Kapitel, etwa das Kapitel 13, in dem die hochkomplexen Anforderungen und die Folgen personeller Engpässe in der Pflege deutlich werden, sind hilfreiche Szenarien, die man in der Pflegebildung nutzen kann, um beispielsweise die Priorisierung pflegerischer Leistungen zu thematisieren. Das Buch könnte aber auch als eine Warnung an Vermittler in den Jobcentern verstanden werden, nicht jeden und jede in die Pflege zu vermitteln. Es könnte auch ein Appell an die Politik sein, die Mittel- und Personalausstattung in solchen Versorgungsformen zu verbessern?
Fatal wäre es, wenn das Buch als Spiegelbild der üblichen Pflege gedeutet würde, denn das ist nicht die Pflege in Deutschland. Ohne Zweifel gibt es solche schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, wie sie beschrieben werden. Aber es ist nicht fair, eine ganze Branche durch eine solche Einzelerfahrung in Misskredit zu bringen. In letzter Konsequenz, das zeigen die Folgen ähnlicher Skandalisierungen der vergangenen Jahre deutlich, bewirken solche markttauglichen Publikationen nur eine Erhöhung des Qualitätssicherungsdrucks, während sich die Arbeitsbedingungen nicht wesentlich verbessern. Vor diesem Hintergrund muss auch die Rolle des Verlags kritisch beleuchtet werden. Was bewegt die Schlütersche Verlagsgesellschaft, ein angesehener Fachverlag für die Pflege, ein solches Buch ins Programm zu nehmen, das in letzter Konsequenz dem Pflegeimage schadet? Ausgehend von dem Wunsch einer ausgewogenen kritischen Darstellung sind das Nachwort und das Vorwort zu loben, die aber vergleichsweise kurz sind. Im Nachwort, beschreibt Anonyma auch die positiven Erinnerungen an die Demenz-WG: Die Tätigkeiten, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und damit Gutes bewirkt.
Am Anfang des Buches findet sich eine wichtige Kommentierung des Buches durch Klaus Werner Pawletko, der Hintergründe für die geschilderten Missstände beleuchtet. Sein Kommentar benennt Einflussfaktoren und Lösungsmöglichkeiten, sodass Hoffnung aufkeimt: „Vielleicht heißt das nächste Buch der Autorin dann ,Paradies Demenz-WG‘“(S. 9).
Ich habe nach dem Lesen des Buchs zweierlei gelernt: Solche Erlebnisschilderungen finden offensichtlich einen Markt. Die Schlütersche Verlagsgesellschaft bewirbt im Anhang noch ein weiteres Buch mit Innenansichten aus der Pflege, diesmal unter einem Pseudonym geschrieben, das ist mal was Neues. Man sollte diesen imageschädigenden Berichten Bücher mit ebenso rührenden und sogar positiven Pflegegeschichten gegenüberstellen. Ein zweiter Erkenntnisgewinn ist der, dass wir auch für innovative Versorgungskonzepte wie die Demenz-Wohngemeinschaften, die wir wegen der Lebensweltorientierung und den Selbstbestimmungsmöglichkeiten gerne als Leuchttürme in der Versorgung älterer Menschen preisen, Qualitätsstandards entwickeln müssen. Offensichtlich gibt es hier – je nach landesrechtlicher Regelung – einen Graubereich, der vom Ziel einer hochwertigen Wohn- oder Versorgungssituation entfernt ist.