Gusset-Bährer, Sinikka
Demenz bei geistiger Behinderung
Ernst Reinhardt Verlag, München, 2012, 252 S., 29,90 €, ISBN: 978-3-497-02271-7
Die vorliegende Studie einer promovierten Psychologin, die überwiegend als Dozentin in der Fort- und Weiterbildung zum Themenschwerpunkt „Alter und Altern“ tätig ist, entstand in Kooperation mit der Bundesvereinigung „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung“. Die Autorin hatte sich bereits im Rahmen ihrer Dissertation an der Universität Heidelberg 2004 („Dass man das weiterträgt, was älteren Menschen mit geistiger Behinderung wichtig ist": ältere Menschen mit geistiger Behinderung im Übergang in den Ruhestand) mit dem Gegenstandsbereich geistige Behinderung u. a. in Gestalt einer Befragung auseinandergesetzt. Die vorliegende Veröffentlichung besteht aus einer Darstellung des gegenwärtigen Wissensstandes Demenz bei geistiger Behinderung auf der Grundlage einer Literaturrecherche.
Die Publikation ist in zehn Kapitel untergliedert, wobei Kapitel 1 eine kurze Einleitung zur Themenstellung enthält.
Kapitel 2 (Formen von Demenzerkrankungen und ihre diagnostischen Kriterien, Seite 14 -47) enthält u. a. die Darstellung verschiedener Formen von Demenzerkrankungen (u. a. Demenz vom Alzheimer Typ, vaskuläre Demenzen), die Auftretenshäufigkeit der Demenzen (Prävalenz und Inzidenz) und die Alzheimer Demenz bei Personen mit dem Down-Syndrom.
In Kapitel 3 (Symptome von Demenzerkrankungen bei Menschen mit geistiger Behinderung, Seite 48 – 58) werden die geistigen und körperlichen Einbußen im Kontext des Abbauprozesses beschrieben.
Kapitel 4 (Die Diagnose einer Demenzerkrankung bei Menschen mit geistiger Behinderung, Seite 59 – 81) beinhaltet die ganze Bandbreite des diagnostischen Instrumentariums bei Demenzen in Gestalt der sogenannten „S3-Leitlinie Demenz“ u. a. unter Berücksichtigung der Diagnostik der Demenz bei geistig Behinderten.
In Kapitel 5 (Wie eine Demenzerkrankung erlebt wird, Seite 82 – 105) befasst sich die Autorin mit dem Belastungserleben der geistig Behinderten mit einer Demenzerkrankung anhand konkreter Aussagen der Betroffenen. Des Weiteren wird auf das Erleben der Belastungen durch die Mitarbeiter und auch deren Belastungen eingegangen, wobei u. a. das Rahmenmodell von McCarron und McCallion (mehrstufiges Variablen- und Stressorenkonzept) beschrieben wird.
Kapitel 6 (Lebensort und Lebensqualität von demenzkranken Menschen mit geistiger Behinderung, Seite 106 – 132) umfasst das Spektrum an Versorgungs- und Betreuungseinrichtungen für Demenzkranke mit einer geistigen Behinderung. Es handelt sich hierbei neben der häuslichen Betreuung durch Angehörige u. a. sowohl um Institutionen der Behindertenhilfe als auch der Altenhilfe im ambulanten, teil- und vollstationären Bereich. Des Weiteren wird das Faktum erörtert, ob bei einem gravierenden Abbau eine Verlegung in eine andere Einrichtung oder eine Nachrüstung der Einrichtung gemäß den neuen Versorgungsanforderungen erfolgen sollte. Zur Ergänzung werden zwei konkrete Beispiele von Versorgungseinrichtungen für diese Klientel aus den USA und Hamburg beschrieben.
In Kapitel 7 (Milieutherapie – Gestaltung der baulichen, organisatorischen und psychosozialen Umwelt für Demenzkranke, Seite 133 – 183) stehen die Umweltaspekte der Lebenswelt Demenzkranker in stationären Einrichtungen im Mittelpunkt. Im ersten Abschnitt geht es um räumlich-physikalische Aspekte wie Licht, Farben, Orientierung. Der zweite Abschnitt befasst sich mit den sozialen Dimensionen wie die Tagesstrukturierung mit den Elementen Mahlzeiten und Beschäftigungs- und Aktivierungsangebote. Im dritten Abschnitt werden psychosoziale Interventionsformen wie Kommunikation, Erinnerungspflege, Prä-Therapie, basale Stimulation und Snoezelen angeführt.
Kapitel 8 (Therapeutische Ansätze bei Demenzerkrankungen, Seite 184 – 198) beschreibt in knapper Form therapeutische Ansätze wie Ergo- und Musiktherapie, verhaltenstherapeutische Konzepte und medikamentöse Behandlungsformen.
In Kapitel 9 (Pflege und Palliative Care bei Demenzerkrankungen, Seite 199 – 218) werden zuerst Zuordnungsaspekte bei erhöhter Pflegebedürftigkeit geistig Behinderter unter den Gesichtspunkten der Behindertenhilfe und der Pflegeversicherung dargestellt. Es folgen Ausführungen über die mit dem Abbauprozess einhergehenden Schmerzen und Schluckbeschwerden hinsichtlich schmerztherapeutischer Interventionen. Den Abschluss bilden Überlegungen zur Schmerztherapie im Kontext der Sterbebegleitung.
In Kapitel 10 (Aufbau einer Versorgungsstruktur für Demenzkranke mit geistiger Behinderung, Seite 219 – 223) wird zu Beginn eine kurze Darstellung des so genannten „Dementia Care Mapping“ als Instrumentarium zur Beurteilung der Betreuungs- und Pflegequalität demenzkranker geistig Behinderter angegeben. Es folgt ein Ausblick bezüglich der Erfordernisse einer angemessenen Bewertung der einschlägigen Institutionen und Versorgungsstrukturen im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte und der Pflegeversicherung.
Eine kritische Bewertung dieser Studie hat auf mehrere Aspekte zu achten, um der Arbeit gerecht werden zu können. Folgende Punkte sind hierbei anzuführen:
- Es liegt eine angemessen strukturierte Sachstandsbeschreibung des komplexen Gegenstandsbereiches Demenz in Theorie und Praxis vor. Kritisch anzuführen gilt das Unvermögen, in diesem Kontext das Wichtige und Notwendige von dem Fehlerhaften und Falschen klar unterscheiden zu können. Die Autorin vermag also nicht, die „Spreu vom Weizen“ zu trennen, denn sonst hätte sie nicht Vorgehensweisen wie z. B. die Prä-Therapie, Snoezelen und basale Stimulation angeführt, die bisher keinen Wirksamkeitsnachweis in der Demenzversorgung erbringen konnten.
- Die Studie verbleibt auf der bloßen Ebene der Beschreibung verschiedener Wirkungssphären der Demenz. Es fehlt die Darstellung der Demenz als einen stringenten Abbauprozess mit den neuropathologischen Korrelaten und dem fortschreitenden Verlust der Erfassung und Bewältigung der Außen- und Innenwelt der Erkrankten, der letztlich die Struktur und die Orientierung allen fachlichen Handelns darstellt.
- Aufgrund der vorliegenden Darstellungsform einer bloßen Zusammenschau der einschlägigen Fachliteratur vermutet der Rezensent, dass die Autorin keine längeren praktischen Erfahrungen im Umgang mit Demenzkranken mit geistiger Behinderung sammeln konnte. Denn die Studie wirkt buchtrocken, ist eine bloße Aufzählung von Fakten, der die Dimensionen der reflektierten Empirie fehlt.
Zieht man ein Fazit, so kann festgestellt werden, dass zwar Wissensstände über die Versorgung Behinderter mit einer demenziellen Erkrankung angemessen vermittelt werden, aber es ist jedoch nicht gelungen, die Komplexität dieses Sujets mit allen Facetten plastisch und praxisnah darzustellen.
Rezension von Sven Lind