Tiefe Atementspannung. Einfluß auf Inzisionsschmerz, Angst und Leiden bei Patienten in der postoperativen Frühphase (Rezension)

Tiefe Atementspannung. Einfluß auf Inzisionsschmerz, Angst und Leiden bei Patienten in der postoperativen Frühphase (Osterbrink, Jürgen: )

Robert Bosch Stiftung (Hrsg.). Reihe Pflegewissenschaft. Aus dem Englischen von Ute Villwock. Verlag Hans Huber: Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, 1999. 153 Seiten, 12 Abb., 56 Tab., Kt. ISBN 3-456-83017-3. DM 39,80 / Fr. 35.80 / öS 291,–

Rezension von: Dr. Stephan Dorschner Fachhochschule Jena, Vertretungsprofessur Theorie und Praxis der Pflege

Jeder von uns hat schon einmal Schmerzen erfahren, mancher auch im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff. Pflegende werden tagtäglich mit den Schmerzen ihrer Mitmenschen konfrontiert, ob im Krankenhaus, im Altenheim oder in der ambulanten Pflege. Jürgen Osterbrink, Leiter des Schulzentrums am Klinikum Nürnberg, legt mit diesem Buch die deutsche Übersetzung seiner Dissertation vor. Die bemerkenswerte Studie, die in der Region Nürnberg in zwei Akutkrankenhäusern durchgeführt wurde, geht der Forschungsfrage nach, inwieweit die präoperative Einführung und kontinuierliche Durchführung einer Technik tiefer Atementspannung postoperatives Leiden und postoperative Inzisionsschmerzen während der ersten 72 Stunden nach abdominalchirurgischen und orthopädischen Eingriffen reduziert. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß Patienten präoperativ oft nurunzureichend über die zu erwartenden Schmerzen informiert und postoperativ nur selten individuell therapiert werden. Für die Untersuchung wurde ein experimenteller Ansatz gewählt und alle 161 Teilnehmer/-innen (Abdominalchirurgie: 79; Orthopädie: 82) willkürlich einer Versuchs- bzw. einer Kontrollgruppe zugewiesen. Die Versuchsgruppe erhielt einen Tag vor der Operation ein strukturiertes Training einer Atemtechnik nach McCaffery. Die postoperative Schmerztherapie erfolgte bei allen Patienten durch patientenkontrollierte Analgesie (PCA). Während der Untersuchung wurden – neben präoperativ erhobenen soziographische und somatische Daten – die Stärke des Inzisionsschmerzes und der Situationsangst mittels visueller visueller Analogskala zur Selbstbeurteilung (Skala von 0,0 bis 10,0), der Opioidverbrauch, Entspannungszustand und Tatkraft mit einer Kurzversion des “Mannheimer Erhebungsbogens der subjektiven Befindlichkeit”, die präoperative Charakter-Angst hinsichtlich Operation und Narkose mit einer “Narkose- und Operationsangstskala”, das präoperative Coping-Verhalten mittels einem nach Schimma entworfenen Coping-Inventory sowie der Neurotizismuswert anhand einer Kurzversion des „Freiburger Personality Inventory” gemessen. Im Ergebnis der Studie stellt Osterbrink fest, daß die gewählte präoperativ gelernte und postoperativ angewendete Atemtechnik bei abdominalchirurgischen und orthopädischen Patienten in der Versuchsgruppe zu einer Verringerung der postoperativ wahrgenommenen Schmerzen (eingeschätzt mittels Selbstbeurteilungs-Skala) im Vergleich zur Kontrollgruppe führt. Die zweite Hypothese, daß die eingesetzte Atemtechnik auch den Opioidbedarf der Versuchsgruppe verringert, konnte jedoch nicht bestätigt werden. Eine Verringerung der postoperativen Situationsangst in der Vergleichsgruppe durch die Atemtechnik konnte ebenfalls nicht nachgewiesen werden. Allerdings wiesen die Patienten, die die präoperativ gelernte Atemtechnik postoperativ anwendeten, eindeutig einen besseren Entspannungszustand und eine stärkere Tatkraft als die Patienten in der Kontrollgruppe auf. Osterbrink gelingt es mit dieser Studie, „den Wert einer postoperativen, nicht-pharmakologischen, zentral wirkenden, schmerzlindernden Technik quantitativ zu bestimmen” (S. 95) und damit durch sein Forschungsprojekt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland in einem interdisziplinären Rahmen zu leisten. Dem Autor ist zu wünschen, daß dieses Buch von möglichst vielen Pflegenden, darüber hinaus auch von Ärzten, Physiotherapeuten etc. gelesen wird, denn insbesondere in der Statistik weniger bewanderte Leser werden bei der Lektüre des sehr anspruchsvollen Werkes vor Schwierigkeiten gestellt. Ein Abkürzungsverzeichnis und ein Glossar wären deshalb sehr hilfreich gewesen. Dennoch denke ich, daß diese Studie zu Lektüre, Diskurs und neuer Forschung herausfordern wird, denn sie zeigt ein breites und weitgehend noch unbeackertes Betätigungsfeld für Pflegeforschung auf. Insofern muß das Resümee der Studie ausdrücklich hervorgehoben werden: „Die zukünftige Schmerzforschung muß sich detaillierter auf die pflegerische Perspektive der Schmerzkontrolle konzentrieren und mehr nicht-pharmakologische Maßnahmen berücksichtigen, um eine effektivere postoperative Schmerzkontrolle zu gewährleisten” (S. 97).